Im Jahre 2015 führte die Themenfahrt der LGPZ in die Ukraine nach Lemberg/Lwiw. Die Reisegruppe lernte als „Reiseführer“ den sympathischen und überaus fachkundigen Wissenschaftler Hans Christian Heinz kennen, der schon seit langem in Lemberg lebte und arbeitete. Inzwischen ist Hans Christian Heinz Mitglied der Lippischen Gesellschaft für Politik und Zeitgeschichte. Auch in einem Vortrag in Lemgo vermittelte er Einblicke in die ukrainische Geschichte und Gegenwart. Nun vermittelt er in einem Interview Eindrücke vom Alltagsleben in Lemberg und erklärt gesellschaftliche Zusammenhänge.
Hans Christian Heinz lebt seit über 26 Jahren in Galizien und arbeitet aktuell an der im Herbst 1918 gegründeten Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine; als erster Deutscher zumindest nach 1991. Ob es jemals ein Engagement von DDR-Bürgern zwischen 1949 und 1990 bzw. von Deutschen zwischen 1919/22 und 1941 gab, ist nicht bekannt.
Rolf Eickmeier: Herr Heinz, vor fünf Jahren führte die jährliche Themenfahrt der LGPZ nach Lemberg/Lwiw. Wir haben Sie damals kennen- und schätzengelernt. Sie leben und wirken seit langem als deutscher Staatsbürger in Lemberg. Was hat sich seit unserem Besuch 2015 in ihrem Alltagsleben verändert?
Hans Christian Heinz: Herr Eickmeier, ich danke für die freundlichen Worte. Die Themenfahrt der LGPZ hat auch dazu geführt, dass ich danach persönlich zu einem Besuch mit Vortrag nach Lemgo gekommen und schließlich Mitglied der Gesellschaft geworden bin. Im Hunsrück (Rheinland-Pfalz) zu Hause beträgt die Entfernung zum Lipperland dann leider fünf Stunden Reisezeit per Bahn, von meiner zweiten Heimat Lemberg/Lwiw in Galizien aus ist Lemgo nur ähnlich zeitaufwändig zu erreichen. Es bestehen auch jetzt in der Pandemie-Zeit direkte Flugverbindungen u.a. nach Dortmund und Berlin.
Der Alltag in Lemberg, in Galizien, in der Ukraine hat sich seit 2015 im Wesentlichen nicht verändert. Einzig ist die Pandemie (Corona/Covid-19) seit Frühjahr 2020 zum Hauptthema in den hiesigen Medien geworden und hat hier die Bewältigung der Folgen der militärischen Aggression der Russländischen Föderation seit 2014 (Annexion der Halbinsel Krym/Krim und militärische Besetzung in der Ost-Ukraine um die Städte Luhansk und Donetsk inklusive derselben) abgelöst. Der durch den nordöstlichen Nachbarn entfachte, aber nicht erklärte und somit „hybride“ Krieg dauert nach wie vor an – wenn auch im Donbass (Donetsbecken) etwas Ruhe eingekehrt ist. Ein weiterer „eingefrorener Konflikt“ an den Rändern der ehemaligen Sowjetunion. Lemberg und Umgebung ist nach der Hauptstadt-Agglomeration Kyjiv/Kiew der zweite Corona-Hotspot in der Ukraine.
Was die Menschen, die vielleicht etwas zu sorglos mit dem Corona-Virus leben (zumindest sorgloser als im ordnungspolitisch regulierten Pandemie-Alltag in Deutschland) eher umtreibt, das sind die wiederholten Preiserhöhungen für Elektrizität und Trinkwasser zum Beginn des Monats März 2021, einhergehend mit Preissteigerungen für Dinge des täglichen Bedarfs. Löhne und Gehälter, ebenso Renten wurden zwar im August 2020 durch präsidialen Erlass und im Parlament bestätigt deutlich erhöht (auf ein Mindestniveau von ca. 180 Euro im Monat), jedoch konnte dies – wie schon so oft seit den 1990er Jahren – die vorangegangenen Verteuerungen nur marginal kompensieren, zudem folgten im Herbst 2020 dann Preissteigerungen z.B. für Strom oder Müllabfuhr und bald auch für Lebensmittel. Die Preisspirale dreht sich immer weiter nach oben und die Einnahmenseite hinkt immer hinterher, die Schere zwischen den Lebenshaltungskosten einerseits und den Realeinnahmen andererseits öffnet sich immer weiter, langsam aber stetig. Dies betrifft v.a. die zwei Drittel der erwachsenen Ukrainer, die entweder staatliche Löhne und Gehälter oder Renten beziehen. Diese monatlichen Bezüge sind sprichwörtlich zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig. In der Privatwirtschaft werden natürlich deutlich höhere Summen gezahlt, so sind z.B. junge Programmierer im IT-Bereich nach Universitätsabschluss nur mit einem Einstiegsgehalt von 500 USA-Dollar monatlich nebst raschen Gehaltssteigerungen zu locken und zu halten.
Für Lemberg gilt der seit den 2000er Jahren durch die Stadtverwaltung eingeschlagene Weg, die beiden ökonomischen Pfeiler „Tourismus“ und „IT-Branche“ aufzubauen und zu stärken. Vom touristischen Potenzial Lembergs haben Sie sich während der LGPZ-Themenfahrt 2015 selbst ein Bild machen können und das Internet bietet auch aus der Ferne genügend Möglichkeiten, sich hier zu informieren. Für den IT-Bereich ist hervorzuheben, dass Lemberg das „Silicon Valley“ der Ukraine geworden ist, mit einer hohen fünfstelligen Zahl (15.000 und mehr) an Unternehmen, viele mit nur geringer einstelliger Mitarbeiterzahl, aber auch schon Mittelständler. Einige Joint-Ventures mit Unternehmen aus EU-Staaten (allen voran aus Dänemark, später auch aus Polen) standen am Beginn dieser Entwicklung. Und das Gute daran: die althergebrachten Oligarchen-Clans hielten an den Monopolstrukturen in alten Industriebereichen (Kohle, Stahl, Fahrzeugbau, Energieerzeugung etc.) fest und haben das Wertschöpfungs-Potenzial der Zukunftstechnologien nicht gleich erkannt, diese Felder also noch nicht okkupiert.
Die aktuelle Pandemie hat natürlich zu einem Einbruch im Tourismus-Sektor geführt. Viele junge Leute, nicht nur Studenten, fanden in der Hotellerie und v.a. Gastronomie einen willkommenen Verdienst, um wirtschaftlich halbwegs auf eigenen Füßen stehen zu können. Da waren Monatseinnahmen von umgerechnet 250 und mehr Euro durchaus realistisch, wobei sich Arbeits- und Ruhetage sich entweder einzeln oder paarweise aneinanderreihten.
RE: Seit 2019 haben sie einen Präsidenten, der als Schauspieler ein politischer Quereinsteiger ist. Wie nehmen sie seine Politik wahr?
HCH: Unauffällig. Dieses eine Wort charakterisiert dies wohl treffend.
Nach einem euphorisch-werbewirksamen Präsidentschafts-Wahlkampf – in dem sich Wolodymyr Zelenskyj der Öffentlichkeit entzog und nur ein einziges Mal aus Paris zu einer politischen Live-Sendung im ukrainischen Fernsehen u.a. mit seinem Kontrahenten Petro Poroschenko (dem damals noch amtierenden Präsidenten) für wenige Minuten zugeschaltet war und später vor der Stichwahl mit Poroschenko ein Fernsehduell auf einer Bühne im Kiewer Fußballstadion abhielt – blieb der Präsident eher unauffällig. Präsident Zelenskyj ist als Krisenmanager mit seinem Beraterumfeld seit einigen Monaten eigentlich abgetaucht.
Sein Start hätte nicht besser sein können: hohe Zustimmungswerte, nicht nur im Wahlergebnis für ihn als Präsidenten bzw. für die von ihm ins Leben gerufene Partei „Diener des Volkes“, sondern auch ein Vertrauensvorschuss für eigentlich unerfüllbare Erwartungen, jetzt und gleich alles besser zu machen. Der große außen- und v.a. innenpolitische Erfolg war natürlich der Austausch der Kriegs- und Zivilgefangenen mit Russland, der nicht unumstritten war. Denn es wurden aus der Ukraine faktische Kriegsverbrecher nach Moskau ausgeflogen, die für verbrecherische Befehle im Kriegsgebiet in der Ost-Ukraine und auch für den Abschuss der Malaysian-Airlines-Maschine ebendort (mit) verantwortlich sein dürften – diese hätten nach der Meinung Vieler eher nach Den Haag zum Internationalen Gerichtshof übergeben gehört. Selbstredend war dieser Austausch nur durch Zustimmung des Präsidenten der Russländischen Föderation zu Stande gekommen und ist als Zugeständnis desselben zu werten.
Für den geneigten Leser dieses Interviews in Deutschland sei dieser (leicht hinkende) Vergleich herangezogen: man stelle sich vor, dass in den 1980er Jahren Komödianten und Unterhaltungskünstler (und in einer solchen Rolle sah sich Zelenskyj als Schauspieler und Produzent) wie Dieter Hallervorden oder Otto Waalkes auf dem Höhepunkt ihrer Popularität das politische Establishment in der alten Bundesrepublik Deutschland mit ihrer politischen Kandidatur aufgemischt hätten und für das Amt des Bundespräsidenten oder des Bundeskanzlers angetreten wären – und hätten diese Wahl gewonnen. Natürlich hat die Nachkriegsordnung und das Grundgesetz in den West-Zonen Deutschlands bzw. der BRD bewusst die Direktwahl ausgeschlossen, denn nun sollten Parteien bei der politischen Willensbildung der Deutschen „mitwirken“ und so eine Mittlerrolle einnehmen. Aber man versteht die Dimension dieses überwältigenden Abwendens vom althergebrachten Politzirkus hin zu einem populären Hoffnungsträger. In Deutschland gibt es hier die schönen Begriffe „Politikverdrossenheit“ bzw. „Politikerverdrossenheit“ …
Objektiv gesehen rekrutierten sich die politischen Eliten in der Ukraine seit 1991 aus den alten Partei-Kadern der Sowjetzeit und dann ab Mitte der 1990er Jahre nahtlos aus den Oligarchen-Clans, die nach ihrer Bereicherung in der Nachwendezeit die politische Bühne als Spielfeld entdeckt haben. Warum hätte sich ein nicht ganz sauber zu seinem Reichtum Gekommener von gewählten politischen Volksvertretern in seinem Schalten und Walten einschränken lassen wollen? Dann lieber gleich sich selbst oder ein Familienmitglied als Bürgermeister, Landrat oder auf einem höheren Posten installieren (lassen).
Nun haben wir nach dem Bürgermeister von Kiew (Witalij Klitschko) mit Präsident Wolodymyr Zelenskyj eine zweite international bekannte Ausnahme. Zwar sind beide jeweils Multimillionäre und superreich – unterscheiden sich hier also nicht von den Oligarchen, welche die Ukraine in räumliche und wirtschaftliche Interessensphären eingeteilt hatten – können aber im Gegensatz zu den Oligarchen ihren materiellen Wohlstand lückenlos erklären und belegen – durch die entsprechenden Einnahmen im Boxsport und im Unterhaltungswesen. Bei den Oligarchen ist – wenn überhaupt – eine nachvollziehbare Begründung zum Wohlstandswachstum erst ab einem gewissen Zeitpunkt zu finden. Wie bzw. woher das „Startkapital“ (die viel zitierte „erste Million“) beschafft wurde, darüber herrscht in der Regel Schweigen, um nicht in Erklärungsnöte zu kommen.
RE: Wie kommen sie in Lemberg und in der Ukraine insgesamt mit der Corona-Pandemie zurecht?
HCH: Für den nicht an Covid-19 erkrankten Zeitgenossen hat sich im Alltag eigentlich nicht viel geändert. Es fehlen die zahlreichen ausländischen Touristen, mittlerweile schon ein reichliches Jahr. Entsprechend weniger umtriebig geht es in der Innenstadt zu. Seit nunmehr einem Jahr ist die „Quarantäne“ als medizinisch-hygienische Ausnahmesituation ausgerufen und ein entsprechendes Verhaltensregelwerk (wie wir dies aus Deutschland kennen: Alltagsmaske, Abstand halten etc.) angemahnt. Zuletzt war vom 8. Januar 2021 an ein harter Lockdown/Shutdown verhängt – über die hiesigen Weihnachts- und Mittjanuars-Feiertage, als Schulferien und vorlesungsfreie Zeit herrschten, sich demnach die meisten Ukrainer ohnehin zu Hause aufhielten. Seit Monatsbeginn Februar 2021 nahmen Kindergärten und allgemeinbildende Schulen wieder einen Präsenzbetrieb mit Wechselunterricht auf. Die maximal zugelassene Zahl von 20 Personen je (Unterrichts-)Raum gilt im Wesentlichen auch für den Arbeitsplatz der erwachsenen Bevölkerung. Hochschulen sind noch bis Ende März 2021 im online-Modus, diese Regelung wird aber mit Sicherheit verlängert, wahrscheinlich bis in den Sommer 2021 hinein.
Was mit Sicherheit um Einiges besser funktioniert als in Deutschland ist der im März 2020 etablierte online-Unterricht an Schulen und Hochschulen. Gerade an den Universitäten sind die Lehre und auch Prüfungen online fast spielend leicht eingeführt worden. Mir sind hier in Lemberg keine Probleme mit der diesbezüglichen Technik bekannt. Es gibt aber keine datenschutzrechtlichen Regulierungen wie in einigen deutschen Bundesländern, so dass die verfügbaren Programme im Internet auch uneingeschränkt genutzt werden können. Auch an Schulen funktioniert dies gut; unser aktueller medienbewanderter Präsident hat mit seiner Mannschaft sogar umsetzten können, dass in den großen Städten nebst Umland Fernsehkanäle den Schul-Unterricht ausstrahlen. Gerade in Städten und Kleinstädten macht es sich positiv bemerkbar, dass die Schüler von klein an mit Smartphone, Tablett und Computer umgehen können und diese Statussymbole ganz oben auf der Anschaffungsliste stehen, wenn die im Ausland wirtschaftenden Angehörigen Geld an die Familie nach Hause transferieren. So sind meist genügend Endgeräte für alle Schüler und Studenten im Haushalt vorhanden – in Deutschland sieht dies gerade in „bildungsfernen“ Familien oder solchen „mit Migrationshintergrund“ ganz anders aus. Natürlich gibt es auch das Gegenbeispiel, dass in der Peripherie die Lehrer von kleineren Dorfschulen die überschaubare Zahl von Schülern per pedes mit Aufgabenblättern versorgen und Hausaufgaben einsammeln – per Übergabe am Gartenzaun oder an der Haustür, unter Einhaltung gewisser Hygienestandards mit Abstand halten.
Noch im Sommer und Herbst 2020 wurde angekündigt, dass in der Ukraine ab dem Frühjahr 2021 ein eigenentwickelter Impfstoff verabreicht werden soll, viele Details dazu wurden nicht verlautbart. Wiederholt hat man von Regierungsseite bekräftigt, dass der russische Impfstoff „Sputnik-V“ nicht importiert werden soll. Im Januar 2021 überraschte die Ankündigung, dass man mit China die Lieferung von 700.000 Dosen eines Vakzins vereinbart habe, welches keine aufwändige Kühlkette benötigt; diesbezüglich folgten aber keine konkreten Schritte und es herrscht wieder Schweigen. In der letzten Februardekade 2021 erhielt die Ukraine durch die Weltgesundheitsorganisation WHO 500.000 Dosen des „Astra Zeneca“-Impfstoffes aus indischer Produktion zugewiesen. Nach Einfuhr und zollamtlicher Abfertigung erfolgte die Weitergabe in die Verwaltungsgebiete. Zunächst soll(te) landesweit das medizinische Personal geimpft werden, doch gab bzw. gibt es keinerlei Impfzentren, man setzt auf Impfungen durch qualifizierte Ärzte vor Ort bzw. später durch mobile Impfteams. Grundsätzlich herrscht eine große Impfskepsis in Bezug auf die Vakzine gegen Corona/Covid-19 in der Bevölkerung vor.
Die Zahl der nachweislich an Corona/Covid-19 Erkrankten ist alles andere als niedrig. Bei Verdacht registriert man sich über seinen Familienarzt in der zuständigen Polyklinik zum Corona-PCR-Test. Der Abstrich wird entweder an festen Stationen oder durch einen mobilen Dienst vorgenommen. Nur schwere Fälle werden ins Krankenhaus eingewiesen, wo die Kapazitätsgrenze vielerorts bereits erreicht ist. Die übrigen an Corona/Covid-19 Erkrankten sollen sich zu Hause isolieren und dort gesunden. Grundsätzlich möchte man in der Ukraine niemandem einen Aufenthalt im Krankenhaus wünschen. Das medizinische Personal ist qualifiziert, die staatliche Gesundheitsvorsorge kostenfrei – ebenso die Nahrungsmittel-Grundversorgung mit Trinksahne und Buchweizengrütze drei Mal täglich. Wer einen abwechslungsreicheren Speiseplan möchte, muss seine Familienmitglieder mobilisieren, die zu Hause zubereitete Speisen mitbringen. Deshalb ist er Krankenhausaufenthalt eines Angehörigen ein absoluter Stresstest für eine Großfamilie. Medikamente sind ohnehin selbst zu bezahlen, deshalb ziehen die meisten eine ambulante Behandlung in der Polyklinik oder beim Krankenhausarzt und ein Auskurieren zu Hause vor. Ein großes Problem ist die dichte Belegung mit vielen Patienten in den eher kleinen Krankenhaus-Zimmern, bei Überbelegung auch auf Fluren.
In der vergangenen Woche (10./11. März 2021) war jedoch der bisherige negative Höhepunkt seit Ausbruch der Pandemie mit weit über 4.000 binnen 24 Stunden neu in Krankenanstalten aufgenommen Corona/Covid-19-Patienten.
RE: Etwas befremdlich bei unserem Besuch vor reichlich fünfeinhalb Jahren war die Selbstverständlichkeit von Korruption in Wirtschaft und Gesellschaft. Hat sich daran etwas geändert?
HCH: Leider noch nicht nachhaltig. Diese Tradition wird auch nur sehr langsam aussterben.
Der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf …
Ein entsprechender Wertewandel muss vorgelebt werden. Ein Regelwerk oder mahnende Wort helfen hier nicht.
Grundsätzlich sei angemerkt, dass Korruption kein ureigen ukrainisches Problem ist; ich kenne auch genügend Beispiele im Behördendschungel in meiner Heimat in Rheinland-Pfalz, angefangen vom Gemauschel bei eigentlich per Ausschreibung getätigten Bauauftrags-Vergaben der öffentlichen Hand bis zur Vorteilsnahme im Amt.
RE: Wir haben Lembergs Bürgermeister Andrij Sadowyj damals persönlich kennengelernt. Er hatte mit seiner Partei „Samopomitsch“ (deutsch: „Selbsthilfe“) durchaus weitergehende Ambitionen. Haben sich die erfüllt?
HCH: Das Spektrum der Meinungen über Andrij Sadowyj, den Bürgermeister von Lemberg, reicht wie so oft bei Politikern von zustimmend positiv bis ablehnend negativ. Im November 2020 wurde Andrij Sadowyj in seinem Amt als Bürgermeister in einer Stichwahl bestätigt, wobei er sich gegen einen seiner politischen Weggefährten und quasi Ziehsohn durchsetzte. Eigentlich war Sadowyj 2016 nur noch zu einer „letzten vierjährigen Amtszeit“ als Bürgermeister von Lemberg angetreten; der Umstand, dass er hier wortbrüchig wurde, beantwortet Ihre Frage nach den „weitergehenden Ambitionen“ im Prinzip bereits.
Sadowyj hat die Nichtregierungsorganisation „Samopomitsch“ („Selbsthilfe“) im Oktober 2004 als quasi eingetragenen Verein für die an der gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt interessierten Bürger Lembergs ins Leben gerufen. Dabei griff er, der damals Stadtverordneter und Gründungsleiter des Amtes für Stadtentwicklung war, auf den Namen einer ukrainischen Kreditgenossenschaft im Geiste Raiffeisens zurück, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im damals österreichischen Galizien begründet wurde. Die Nichtregierungsorganisation „Samopomitsch“ unterstützte Bürger (meistens wohlhabende Geschäftsleute) u.a. bei Widersprüchen und Klagen gegen behördliche und gerichtliche Entscheidungen. Erst Ende Dezember 2012 wurde auch eine politische Partei mit dem Namen „Samopomitsch“ durch Sadowyj beim Amtsgericht registriert, die dann auch zu Wahlen auf allen Verwaltungsebenen von der Kommune über Kreise und Verwaltungsgebiete bis hin zum gesamten Staatsgebiet antrat. Selbstredend nur in den Wahlkreisen, wo diese Partei Mitglieder hatte und einen oder mehrere Kandidaten aufstellen konnte. Das Parteilogo ziert neben dem grünen Schriftzug „Samopomitsch“ auch ein Ausschnitt der blauen Flagge der Europäischen Union mit dem goldenen Sternenkreis.
Die Partei „Samopomitsch“ stellt Volksvertreter und Bürgermeister in zahlreichen Landkreisen v.a. in der West-Ukraine. Hat also eher einen regionalen Charakter. Staatsweit dürfte diese Partei auch künftig keine große Rolle spielen. Sadowyj selbst hat es geschickt vermieden, sich in den Vordergrund zu drängen, wenn die Partei bei staatsweiten Parlamentswahlen antrat.
Nach dem Abklingen der Pandemie (Corona/Covid-19) in der Ukraine wird sich in der verbleibenden Amtszeit von Präsident Zelenskyj zeigen, ob und in wie weit dieser politische Amtsträger in Bezug auf Verfehlungen in der Vergangenheit zur Verantwortung ziehen will und entsprechende Gesetze auf den Weg bringen kann. Dann dürften viele ehemalige und noch amtierende Minister, Abgeordnete, Landräte und auch Bürgermeister ganz schön ins Schwitzen kommen …
RE: Lemberg ist Teil einer langen Geschichte europäischer ethnischer und nationaler Konflikte. In neuerer Zeit ist der Konflikt mit Russland im wahrsten Sinne des Wortes am brennendsten mit dem Krieg in der Ostukraine und den Auseinandersetzungen um die Krim. Wie ist die Haltung von Politik und Bevölkerungsmehrheit zu Russland?
HCH: Die politischen Amtsträger in der Ukraine müssen sich heuer quasi aus Staatsräson russlandkritisch äußern und geben. De facto sind die politischen Eliten in der Ukraine zu einem guten Teil russischstämmig und fast alle im privaten Bereich russischsprachig.
Der aktuelle Konflikt mit Russland ist nicht der erste in der gemeinsamen Geschichte, doch das „gemeine“ Volk wird sich nach dem Abklingen desselben wieder zusammenraufen. Es ist natürlich eine Generationenfrage, viele Vorurteile werden bleiben und nur schwer abzubauen sein.
Diese Art Erinnerungskultur ist im Westen der Ukraine in Bezug auf die Erfahrungen mit den chauvinistisch-bevormundenden staatlichen Vertretern Polens (in Wolhynien und Galizien), Ungarns bzw. der Tschechoslowakei (im Transkarpatengebiet) oder Rumäniens (in der Nord-Bukowina um Czernowitz) vor 1944/45 noch lange nicht ausgestorben.
Der große und bittere Unterschied beim aktuellen Konflikt – der durch die Aggression der Russländischen Föderation ausging – liegt darin, dass schon weit über zehntausend Todesopfer zu beklagen sind.
RE: Es gibt mit der EU ein Assoziationsabkommen und verschiedene wirtschaftliche und politische Partnerschaftsmaßnahmen. Das Ziel des EU-Beitritts ist sogar in der Verfassung festgeschrieben. Wie wird der jetzige Stand der Annäherung gesehen?
HCH: Nun, zunächst wurde im Juni 2014 im Wesentlichen nur der wirtschaftliche Teil des Assoziationsabkommens unterzeichnet und dessen Ratifizierung in allen EU-Mitgliedsstaaten zog sich auch lange hin, bis 2016 sogar ein Referendum in den Niederlanden ein negatives Ergebnis brachte (das sicher nicht ursächlich die Ablehnung der wenig bekannten Ukraine wiedergab, sondern eher eine Abwehrhaltung und/oder Politikverdrossenheit in Bezug auf europäische Strukturen darstellte). Aber all dies wurde hier in der Ukraine von den interessierten Kreisen trotzdem schmerzlich wahrgenommen. Man fühlt sich nach wie vor eher abgelehnt und nicht so recht gewollt. Warum eigentlich?
Grundsätzlich ist aber die Annäherung der Ukraine an die EU hier kein Tagesthema. Da hat die militärische Aggression der Russländischen Föderation im Süden und Osten des Landes seit 2014 und auch nun die weltweite Epidemie (Corona/Covid-19) eine größere Präsenz im alltäglichen Wahrnehmungsspektrum der Bevölkerung. Für gefühlt 80 und mehr Prozent der Ukrainer steht der wirtschaftliche Überlebenskampf im Familienverband im Mittelpunkt. Die Übrigen sind reich, superreich, hyperreich – wenn auch das Wohlstandsgefälle sicher nicht ganz so krass wie z.B. in Russland ist.
Der wirtschaftliche Annäherungsprozess zwischen der EU und den östlich angrenzenden Ländern war eigentlich nie unterbrochen und hat nun die Grundlagen für eine neuerliche und beschleunigte Dynamik bekommen. Viele Experten bemängeln eine gewisses „unausgereiftes“ Niveau des wirtschaftlichen Teil des Assoziationsabkommens in der Hinsicht, dass die Ukraine nicht als Dreh- und Angelpunkt in die Nachbarregionen Schwarzmeerraum – Kaukasus – Mittelasien, aber auch zum nach wie vor wichtigen Handelspartner Russland aufgewertet und somit geopolitisch bedeutungsvoller wurde. So bleibt die Ukraine hier der eher gegängelte, regulierte und perspektivisch klein gehaltene Juniorpartner in einer Art „Sackgassen“-System (wobei die Ukraine die Endschleife bzw. den Wendehammer bildet). Um hier bildlich weiter zu folgern: ein künftig mehrspuriger „Verkehrsknotenpunkt“ Ukraine mit sternförmig von ihr ausgehenden bzw. auf sie zulaufenden Handelswege hätte eigentlich das angestrebte Ziel sein müssen.
Ein Beitritt der Ukraine zur EU steht natürlich noch nicht auf der Tagesordnung. Dies kann aber – ähnlich wie die dramatischen gesellschaftspolitischen Veränderungen im damaligen Ostblock 1989/1990 und der Weg zur Deutschen Einheit – durchaus kurzfristig geschehen. Es dürfte sich im Gesamtkonstrukt der irgendwann auf die Tagesordnung stehenden Lösung der zahlreichen „eingefrorenen Konflikte“ im postsowjetischen Raum (Transnistrien im Osten der Republik Moldau, Abchasien und Süd-Ossetien im Westen von Georgien, Berg-Karabach als Zankapfel zwischen Armenien und Aserbaidschan oder mit direktem Bezug zur Ukraine die annektierte Halbinsel Krym/Krim und die besetzte Ost-Ukraine) erst dann realisieren lassen, wenn das politische System in der Russländischen Föderation nachhaltige Änderungen erfährt. Der dortige Präsident wird rein biologisch nicht ewig leben und auch nicht unendlich regieren, vielleicht bringen die in Russland in der zweiten Jahreshälfte 2021 anstehenden Kommunalwahlen schon die ersten Veränderungen. Auch das ähnlich autokratisch-diktatorische System in Belarus (Weißrussland) wankt und wird eher früher denn später fallen. Es dauerte zwei Generationen, bis der Kalte Krieg zu Ende ging und der von der Sowjetunion nur durch militärische Gewalt und politische Bedrückung zusammengehaltene Ostblock wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel, gefolgt vom Auseinanderfallen der Sowjetunion selbst. Und es wird vielleicht auch zwei Generationen dauern, bis die Russländische Föderation die nur mit Zwang gehaltenen Gebiete an den Rändern in die Unabhängigkeit entlassen und die militärisch-politischen Einflussnahmen einstellen muss, um in ein friedliches, respektvolles und faires Miteinander mit den europäischen und asiatischen Nachbarstaaten einzutreten.
Für die Ukraine gilt, dass die Menschen sich seit den frühen 1990er Jahren sich schon immer selbst zu helfen gewusst haben, um einen Weg aus der Armut zu finden. Dies ist seit dem Verlust der eigenen Staatlichkeit im späten Mittelalter im Westen (Aufgehen im polnisch-litauischen Staatswesen) und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Osten (Zerschlagung der Kosaken-Gemeinschaft durch das Zartum Russland) auch nie anders gewesen: von den Herrschern fremder Volkszugehörigkeit war Unterordnung und Assimilation erwartet und dann auch verlangt worden, wollte man in den neuen gesellschaftlichen Strukturen aufsteigen. Als bekennender Ukrainer musste man sich schon immer selbst und in gleichgesinnter Gemeinschaft ums ökonomische Überleben kümmern. Mit der Unabhängigkeit im August 1991, dem wirtschaftlichen Kollaps und der anschließenden Hyper-Inflation waren die staatlichen Strukturen der Ukraine hoffnungslos überfordert. Nach dem Überwinden einer ersten Schockstarre begann Mitte der 1990er Jahre die temporäre Arbeitsmigration ins Ausland. In vielen südeuropäischen Ländern, aber auch in der Russländischen Föderation sind Ukrainer seitdem unverzichtbare Arbeitskräfte in Bereichen, wo der einheimische Arbeitsmarkt des Gastlandes Bedarf hat. Sei es in großer Zahl als Haushaltshilfen, Erntehelfer oder im Bauwesen, aber auch als Fachkräfte (IT-Bereich, Ingenieure, Ärzte, Wissenschaftler etc.). Die angesprochene Assoziation EU-Ukraine hat es nun gerade jungen Ukrainern möglich gemacht, in verschiedenen EU-Staaten legal Fuß zu fassen, mit erleichtertem Zugang zu einem Visum für Studium und Arbeitsaufnahme. Da ist Deutschland eins der wichtigsten Zielländer für Ukrainer in der EU – gemeinsam mit Polen, Tschechien und Italien. Gerade für die jüngeren Ukrainer, die weder positive noch negative – auch keine verklärenden – Erinnerungen an die Sowjetzeit haben, ist diese Horizonterweiterung ein Gewinn. Perspektivisch wird die Mehrheit von ihnen zurückkehren, sobald es auch ein höheres Lohnniveau in der Ukraine gibt. Da ist es bedauerlich, dass die äußeren Kredit-Geldgeber (Internationaler Währungsfonds und Weltbank, aber auch projektbezogen die Europäische Investitionsbank) eher gängeln und nicht nur unumstrittene Bedingungen stellen bzw. ebensolche Vorgaben machen. Etwas weniger Oberlehrermentalität und mehr Vermittlung, dass der ukrainische Partner ernst genommen und auch in seinen Bedenken gehört wird – dies wäre hier wünschenswert. Oft ist es nur ein Vorgehen nach dem Motto „friss oder stirb“. Dies öffnet anderen Staaten Tür und Tor, allen voran China. Bestes Beispiel: ab Jahresmitte 2021 muss die Ukraine die langfristige Pacht der eigenen Böden für ausländische Investoren ermöglichen, dies war eine Bedingung des Internationalen Währungsfonds für die letzte Kredit-Tranche. Chinesische (Staats-)Unternehmen scharren bereits mit den Hufen, um große Flächen im Schwarzmeerküstenraum mit ausgeruhten Böden hervorragender Güte für wohl höchstintensiven Acker-und Feldbau sowie zur Schweinezucht zu nutzen. Gedacht für den chinesischen Markt – aber ob es so kommt, oder die Ernte und das Fleisch nicht doch auch in die EU exportiert wird?
Die Ukraine scheint in einer undankbaren Lage langfristig abhängig zu sein, am finanziellen Tropf anderer Staaten und internationalen Organisationen zu hängen. Die eigene Regierung ist in ihren Handlungsmöglichkeiten beschränkt, die Gewinne aus den Ressourcen des eigentlich reichen Landes kommen dem Staatswesen und der Bevölkerung nur marginal zu Gute. Dennoch ist – meiner Ansicht nach – die Ukraine kein „failing state“ oder sogar „failed state“, auch wenn sich innere (Wendegewinnler, alte postsowjetische Kader, Oligarchen) und äußere (der große im Nordosten benachbarte Staat) Akteure sich mit Kräften darum bemüht haben und bemühen. Da ist der Anfang der ukrainischen Nationalhymne sinnstiftend: „Noch sind der Ruhm und die Freiheit der Ukraine nicht gestorben …“.
Herr Heinz, wir danken Ihnen für die aufschlussreichen Erklärungen und wünschen Ihnen und Ihrer Familie viel Gesundheit und Glück.