1. Edgar Selge, Hast du uns endlich gefunden  

2. Christian Berkel, Der Apfelbaum

3. Campino, Hope Street, Wie ich einmal englischer Meister wurde

4. Elke Heidenreich / Bernd Schroeder: Alte Liebe

5. Dietmar Dath: Deutsche Demokratische Rechnung. Eine Liebesgeschichte

6. Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise

7. Robert Löhr: Das Hamlet-Komplott

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Edgar Selge, Hast du uns endlich gefunden, Rowohlt-Verlag 2021, 301 Seiten

Was für ein Buch !

Edgar, ein neugieriger, eigensinniger, manchmal auch (heimlich) aufmüpfiger Junge, vielleicht 12 Jahre alt, beschreibt, was er beobachtet, überlegt, fragt und hinterfragt, fühlt und vermutet in einer bildungsbürgerlichen Familie in der „ostwestfälischen Provinz“. Die Familie lebt lange Jahre in Herford, vorher in Bückeburg und Werl, sie fahren gelegentlich nach Detmold, einer seiner Brüder ist bei der Panzerbrigade 21 in Augustdorf. Der Vater, ein Jurist, aber lieber auch Pianist , ist Direktor der Jugendstrafanstalt Herford. All das mag ostwestfälische Leserinnen und Leser schon etwas neugierig machen, aber das Lesevergnügen geht weit über das bekannte Lokale hinaus.

Wer sich auf Edgar Selges „Roman mit autobiographischen Zügen“ einlässt, wird gefangen genommen von den oft verstörenden Erlebnissen und Beobachtungen dieses Jungen, den fast täglichen Widersprüchen von Liebe und Gewalt. Er erlebt dies vor allem bei seinem Vater, schließlich auch bei sich selbst, wenn er in seinen Spiel- und Phantasiewelten mit einem Jagdbomber Rotterdam und andere Städte zerstört. Brutales Verprügeln gehört zu den bevorzugten Erziehungsmethoden seines Vaters. Edgar fragt sich danach immer wieder, weshalb er das hinnimmt und trotzdem so etwas wie Zuneigung zu seinem Vater empfindet.

Es wird in dem Roman das bildungsbürgerliche Milieu der Nachkriegszeit beschrieben, eigentlich das krampfhaft bildungsbürgerliche, um die in den Eltern schlummernde Unmenschlichkeit der eigenen Nazi-Erziehung und -Erfahrung zu überdecken. In den Zeiten des Krieges und des NS-Terrors sind sie zu Überzeugungstätern geworden. Wie sollten sie das wieder loswerden? Auch in Herford blieben die tief sitzenden Vorurteile gegenüber einer noch lebenden jüdischen Familie, das vordergründige Ausblenden der Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht, die Wut gegenüber denjenigen, die genau das ans Licht bringen wollten. Folgerichtig dann auch die Schimpftiraden des Vaters gegen Sozialdemokraten und die Bewunderung für Bundeskanzler Adenauer, in dessen Regierungszeit viele hochrangige Nazis wieder in Amt und Würden kommen. Im Herforder Gefängnis werden auch in der Besatzungszeit der Briten nach 1949 hochrangige Nazi-Generäle fürstlich behandelt – Edgars Vater ist stolz darauf, dafür verantwortlich gewesen zu sein. Bis 1953 sind nahezu alle Ex-Generäle wieder in Freiheit. Die Schilderung dieser Nachkriegserlebnisse gehört zu den politisch empörendsten Passagen des Buches. Mit kindlicher Neugier und Logik betrachtet Edgar die Widersprüche in seiner Familie und in der Gesellschaft.

Gut für Edgar, dass zwei seiner älteren Brüder in den Tischgesprächen der Familie mit ihren Fragen und Einwürfen die Verabsolutierung der schlimmen Vergangenheit in Frage stellen und entlarven. Das lässt bei Edgar so etwas wie die Lust an der Provokation entstehen. Er entdeckt zunehmend, wie er seine Eltern hinters Licht führen kann und zu problematischen, weil entlarvenden Aussagen bringen kann.

Der Vater übt täglich für seine Musik, vor allem dann für den Höhepunkt des jährlichen Konzerts im eigenen großzügigen Wohnhaus, direkt neben dem Gefängnis. Er wird unterstützt von einem professionellen Geiger aus Hamburg, und die Mutter muss die Notenseiten umblättern. Für das Konzert werden 80 Gefängnisinsassen mit ihren Aufsehern zunächst zum Beiseiteräumen der Möbel und anschließend als zwangsverpflichtetes Konzertpublikum in das Haus des Gefängnisdirektors befohlen. Abends wird das Konzert wiederholt vor den Freunden des Herforder Rotary-Clubs.

Edgar baut sich seine eigene Welt auf, nicht nur in seinen Bomberpilotphantasien, wenn er im Garten im Birnbaum sitzt, sondern auch durch häufige spätabendliche Kinobesuche mit allen Filmklassikern seiner Zeit, immer eine besondere Herausforderung, aus dem Fenster seines Zimmers zu steigen und unbemerkt wieder hineinzukommen. Natürlich ist das strengstens verboten, so dass er sich das Eintrittsgeld zusammenstehlen muss. Auch Bücher faszinieren ihn, auch die muss er in einer Zeitung versteckt aus dem Buchladen entwenden. Andere Unaufrichtigkeiten und Lügen kommen hinzu – das sind die größten Verfehlungen überhaupt, wie seine Eltern ihm einzubläuen versuchen.

Edgar fragt sich oft, ob er sich von den Strafgefangenen im Gefängnis praktisch und moralisch unterscheidet – wohl eher nicht.

Edgar Selges „Roman mit autobiographischen Zügen“ ist jedenfalls für alle, die die Nachkriegszeit in der Provinz noch selbst erlebt haben und auch die Gefangenschaft ihrer Elterngeneration in der nationalsozialistischen Vergangenheit, ein Anrühren eigener Erinnerungen. Es ist ein absolut spannendes Buch – nicht durch die Handlungen, sondern durch die Beziehungsspannungen.

Absolut lesenswert!

Ach ja, Edgar Selge, 1948 geboren, ist einer der bekanntesten deutschen Theater- und Fernsehschauspieler. Er spielte fast zehn Jahre lang den einarmigen Kommissar Tauber im bayrischen „Polizeiruf 110“. Viele mögen ihn in dieser Rolle vor Augen haben. Wer seinen Roman liest, wird an keiner Stelle an diese Figur denken – auch ein Qualitätsmerkmal des Buches.

 

Bewertung:    ∗∗∗∗*

(5 Sterne = Höchstwert)

 

 

 

 

Christian Berkel: Der Apfelbaum. Roman. Ullstein, Berlin 2018. 416 Seiten, 22 Euro.

Christian Berkel, mir bekannt als nachdenklicher, sich in Personen und Konflikte hineinträumender Schauspieler in der ZDF-Freitagsserie „Der Kriminalist“, rangiert in der SPIEGEL-Bestsellerliste ganz oben mit seinem Debütroman „Der Apfelbaum“. Ein bisschen skeptisch darf man da schon sein. Ein Schauspieler als Schriftsteller?

Durch Zufall erlebe ich Christian Berkel live in einem literarischen Gespräch, in dem er seine eigenen Identitätsfragen anspricht: Sohn einer „halbjüdischen“ Mutter, selbst längere Zeit in Frankreich gelebt, deutscher Staatsbürger mit einer Familiengeschichte, in der Intellektuelle und politisch Betroffene und Kämpfende an vielen unterschiedlichen Orten Europas ihre Spuren hinterlassen haben. All das habe er genauer wissen wollen. Das sei Anstoß für seinen Roman gewesen. Also eher eine Familiendokumentation?

Dann finde ich auf dem Deckblatt des Buches ein Zitat des bekannten Schriftstellers Daniel Kehlmann, das mich neugierig macht: „Wenn wieder einmal jemand fragt, wo es denn bleibt, das lebensgesättigte, große Epos über deutsche Geschichte, dann ist von jetzt an die Antwort: Hier ist es, Christian Berkel hat es geschrieben. Dieser Mann ist kein schreibender Schauspieler. Er ist Schriftsteller durch und durch. Und was für einer.“

Der Ich-Erzähler will seine Identität durch Gespräche mit seiner betagten Mutter erkunden. Nur die ist schon ein wenig dement – oder tut vielleicht manchmal auch so – und erinnert sich nur bruchstückhaft. Durch die Erforschung von Briefen, Akten, Dokumenten versucht er die Lücke zu schließen und kann sich zunehmend Ereignisse, Begegnungen, Konflikte und überwiegend gescheiterte Beziehungen von den Zwanzigerjahren bis ins Berlin der Fünfzigerjahre erschließen. Über drei Generationen sind die verschiedenen Familienmitglieder zu verschiedenen Zeiten – nicht immer freiwillig – in Berlin, Ascona, Madrid, Paris, im Lager Gurs, in Moskau und in Buenos Aires. Sie sind in die Nazi-Herrschaft, vor allem in die Weltkriege verwickelt, sie sind beteiligt oder auf der Flucht. Vor allem die Odyssee seiner halbjüdischen Mutter durch Europa, ihr Verstecken und Spurenverwischen, bilden einen dominierenden Erzählstrang. Sein Vater, aus dem kriminellen Arbeitermilieu zum Mediziner aufgestiegen, der im Russlandfeldzug Unvorstellbares erlebt hat, begegnet seiner Jugendliebe, der Mutter des Ich-Erzählers, auch in den Kriegszeiten immer mal wieder kurz. Nach acht Jahren unterschiedlichen Lebens finden sie in den Fünfzigerjahren tatsächlich wieder zusammen.

Christian Berkel erzählt all dies in einem wechselnden Geflecht von Handlungsebenen und Orten, mit faktenbasierten historischen Bezügen und den naheliegenden Reflexionen, mit einer bedrückend nahen Beschreibung des Schrecklichen jener Zeit, oft mit einem Funken positiver Überbleibsel von Menschlichkeit. Besonders im ersten Teil des Romans fallen gelegentlich gewollt literarische Bilder und Vergleiche auf, die vielleicht Christian Berkels Bemühen geschuldet sind, ein echter Schriftsteller sein zu wollen.

Dieser Roman ist ein Beispiel dafür, wie wichtig es ist, die Erinnerung zu bewahren, gerade auch an die schrecklichen Ereignisse beider Weltkriege mit den Folgen für Beteiligte und ihre Familien. Auf Seite 212 heißt es im Roman dazu: Zuerst stirbt der Mensch, dann die Erinnerung an ihn. Für diesen zweiten Tod tragen wir Nachgeborenen die Verantwortung. Wollen wir mit dem Satz Irgendwann muss doch mal Schluss sein die Menschen von damals ein zweites Mal ermorden? Wie viele Namen wollen wir denn mit einem sauberen Schlussstrich eliminieren“

Also: Sehr empfehlenswert

Bewertung:    ∗∗∗∗*

(5 Sterne = Höchstwert)

(Rolf Eickmeier)

 

Campino, Hope Street, Wie ich einmal englischer Meister wurde, Piper-Verlag, München 2020, 353 Seiten, 22,- Euro

In dieser Buchbesprechung und -kritik sollten Sie zur Annäherung und Einstimmung zunächst die folgenden Fragen beantworten:

  1. Finde ich die traditionsreiche Punkband „Die Toten Hosen“ gut?
  2. Bin ich begeistert von dem Sänger der Toten Hosen, „Campino“?
  3. Möchte ich etwas über die Familiengeschichte Campinos erfahren?
  4. Möchte ich etwas erfahren über den musikalischen Hintergrund, die Entstehung und Entwicklung der Toten Hosen?
  5. Bin ich neugierig auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Engländern und Deutschen?
  6. Interessieren mich die Lebensverhältnisse in Großbritannien?
  7. Bin ich Fußballfan?
  8. Reizt es mich, (in Nicht-Pandemiezeiten) in Fußballstadion zu gehen?
  9. Finde ich Jürgen Klopp sympathisch?
  10. Habe ich großes Interesse am FC Liverpool?

Wenn Sie fünf der zehn Fragen mit „JA“ beantworten, dann sollten Sie das Buch von Andreas Frege, alias „Campino“, lesen. Wenn Sie weniger Fragen mit „JA“ beantworten können, seien Sie einfach neugierig auf eine besondere deutsch-englische Beziehung.

Andreas Frege/Campino erzählt und reflektiert die Geschichte seiner Familie und dabei das Verhältnis zwischen deutschen und englischen Gewohnheiten, Einstellungen und Gefühlen. Denn Andreas Freges Mutter ist Engländerin. Sie kommt nach dem Krieg nach Göttingen als Aufbauhelferin in der britischen Besatzungszone und heiratet einen deutschen Juristen. Sie lebt fortan in Deutschland, behält dabei lange Jahre Kontakt zu anderen Frauen der britischen Soldaten, und ihre Verwandten leben sowieso in England. Ihre Kinder werden in England geboren, mit ihnen ist sie mehrere Wochen im Jahr dort bei Verwandten im Urlaub. Ist es da ein Wunder, dass einer ihrer Söhne, der spätere Campino, England als seine zweite Heimat ansieht. Er ist sehr stolz, dass er schließlich im Jahre 2017 in der Berliner Botschaft die englische Staatsbürgerschaft erhält.

Campino muss sich an prägende Erlebnisse aus seiner Kindheit und Jugend erinnern, an die Auseinandersetzungen mit seinem Vater oder seiner Mutter, an seine eher holprige, eher unfleißige Schullaufbahn, an seine ersten musikalischen Erlebnisse und Aktivitäten, dann an die Zeit des Ausstiegs aus der bürgerlichen Lebenswelt als Punk in der Düsseldorfer  Kultkneipe „Ratinger Hof“. Als inzwischen 58-Jähriger erinnert er all dies mit leicht ironischer Selbsterkenntnis.

Neben der Musik aus England hat ihn seit seiner deutsch-englischen Kindheit ein Fußballverein fasziniert, der FC Liverpool. Sein größter Wunsch war es immer, einmal im Stadion an der Anfield-Road sein zu können. Kein Zufall, dass seit Jahren am Ende jedes Tote Hosen-Konzerts der Song „You`ll never walk alone“ gesungen wird – der Song, der vor Beginn eines jeden Spiels des FC Liverpool von den Fans laut und mit Inbrunst gemeinsam gesungen wird. Nur nebenbei bemerkt, diese „Hymne“ ertönt auch im Borussenstadion in Dortmund vor jedem Spiel. Natürlich ist es auch kein Zufall, dass Jürgen Klopp als Trainer von Dortmund nach Liverpool gewechselt ist.

Wie gut, dass Campino mit den Toten Hosen eine solch erfolgreiche Karriere hingelegt hat. Offensichtlich kann man im Musik- und Showgeschäft recht wohlhabend werden. Denn Campino kann es sich leisten, einen Kindheitstraum zu verwirklichen. Er bekommt in Liverpool eine Dauerkarte. Er kann im Spieljahr 2019/2020 zu fast allen Heimspielen reisen und sogar zu vielen Auswärtsspielen, egal ob in England oder in Dubai zu den Weltpokalspielen. Wenn er zwingend andere Termine hat, werden die Spiele des FC Liverpool in Hotels im Live-Stream verfolgt – und die Siege gefeiert.

Er hat zudem das Glück, dass er das erfolgreichste Jahr des FC Liverpool erwischt hat mit dem überragenden Meistertitel, dem ersten nach 30 Jahren und Erfolgen in der Champions-League und dem Weltpokal-Triumph. Im Untertitel des Buchs heißt es deshalb: „Wie ich einmal englischer Meister wurde“.

Campino listet alle Spiele samt der Torschützen auf, berichtet darüber aber nicht wie ein Fußballberichterstatter, sondern beobachtet das Drumherum eines jeden Spiels. Er ist stolz, bei all dem Teil der Liverpooler Fanszene zu sein. Immer mal wieder kommen ihm dabei auch kritische Gedanken, zum Beispiel zu der nicht zu leugnenden Gewalt in Fußballstadien, er ist erschüttert über die größten Tragödien im Zusammenhang mit Spielen seines FC Liverpool, nämlich die 39 Toten im Brüsseler Heyselstadion im Jahre 1985 bei einem Spiel gegen Juventus Turin oder, noch schlimmer, die 96 Toten bei einem Spiel in Sheffield im Jahre 1989. Hochpolitisch die Aufarbeitung der Ursachen. Erst 27 Jahre später entschuldigt sich Premierminister Cameron bei den Liverpool-Fans für die falschen Beschuldigungen und erkennt die Fehler der Polizei an. Die Verurteilung der Liverpool-Fans wurde vor allem von dem Boulevardblatt „The Sun“ wahrheitswidrig ausgeschlachtet. Seit dieser Zeit kauft in Liverpool niemand die „Sun“.

„Was ich in Liverpool am meisten liebe, sind die Menschen. Liverpudlians. Ich weiß nicht, wie sie auf andere wirken. Ich sehe sie halt mit meinen Augen. Wenn du hier mit dem Flugzeug ankommst, landest du auf dem John Lennon Airport. ‚Èleonor Rigby‘, ‚Penny Lane‘, ‚Strawberry Fields‘. Ich kann die Lieder in meinem Kopf hören, wenn ich hier durch die Straßen gehe. Die Leute schauen dich freundlich an, egal, wo du herkommst. Sie haben ‚Remain‘ auf ihren Wahlzetteln angekreuzt und nicht den Brexit. Liverpool ist eine Hafenstadt, und natürlich ist sie rau. Reichtum, Gewalt, Armut – das gab es alles in Mengen, und es hat seine Spuren hinterlassen. Aber niemand hält sich für etwas Besseres, der Zusammenhalt ist stärker als anderswo.“ (S. 279) Campinos Liebeserklärung an die Stadt, in der er die Wurzeln seiner eigenen Musik findet. Beat und Punk haben von hier aus den Weg nach Deutschland gefunden.

Campino fragt sich schon ab und zu, ob das, was er in diesem Meisterjahr macht, nicht etwas verrückt sei, wenn er so häufig von Düsseldorf nach England fliegt oder sogar nach Dubai zu den Spielen des FC Liverpool. Aber all diese selbstkritischen Gedanken treten in den Hintergrund, wenn er mit Jürgen Klopp und seiner Familie nach den Spielen zusammensitzen und fachsimpeln kann.

Nun das Fazit: Interessant ist das Buch am ehesten für die, die einige der obigen Fragen bejaht haben. Und für alle anderen ist es ein Blick in eine vielleicht fremde Welt, der zu einiger Verwunderung führen kann oder immer mal wieder auch zu einem Verständnisgewinn. Campino ist ein begeisterter Fußballfanerzähler und ein immer auch selbstironischer und selbstkritischer biographischer Erzähler.

Sie werden es nicht bereuen, dieses Buch gelesen zu haben.

(Rolf Eickmeier)

 

Elke Heidenreich / Bernd Schroeder: Alte Liebe. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2009.
191 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446233935

Freilichtmuseum Detmold, Februar 2020: Kerstin Klinder und Jürgen Roth, bekannte Darsteller des Landestheaters Detmold, lesen in Dialogen verschiedene Kapitel aus dem Roman „Alte Liebe“ von Elke Heidenreich und Bernd Schroeder. Sie machen  die beiden Hauptpersonen des Romans, Harry und Lore,  für das Publikum so lebendig, dass sich bestimmt viele der Anwesenden in die Situationen einer Ehe hineinversetzen können – Alltagsprobleme und Auseinandersetzungen nach 40 Jahren Ehe.

Was liegt da näher, als das Buch zu lesen?

Jedes der über dreißig Kapitel ist zweigeteilt, wobei zunächst abwechselnd Lore oder Harry zu Wort kommen und dann ihr jeweiliger Bericht in einen Dialog zwischen den beiden wechselt. Diese Dialoge sind amüsant und witzig, voller Selbstironie auf ihre Lebensideale und Gewohnheiten als Alt-68er, an die sich die beiden immer wieder erinnern. Aber sie haben sich auseinander gelebt. Sie sind gegenseitig oft genervt von den Verhaltensweisen des jeweils anderen.

Harry und Lore diskutieren nun vordergründig über die Frage, ob sie zu der dritten Hochzeit ihrer Tochter mit einem neureichen, langweiligen und stockkonservativen Unternehmer fahren sollen, zumal auch diese Ehe nach ihrer Meinung wieder nichts werden könne. Immer wieder zweifeln sie dabei ziemlich ratlos, warum ihre liberalen und antiautoritären Erziehungsideale bei ihrer Tochter zu solchen Ergebnissen führen konnten.

Harrys Alltag als Pensionär ist bestimmt durch seine Liebe zu seinem Garten und zu einem schönen kühlen Weizenbier. Lore ist nach wie vor berufstätig als Bibliothekarin und engagiert sich seit vielen Jahren für Lesungen und Veranstaltungen mit berühmten Schriftstellern. Sie ist stolz darauf, viele persönlich zu kennen. Doch immer häufiger sagt sie sich: „Mir macht mein Beruf keinen Spaß mehr. Die Bücher sind nicht mehr das, was sie einmal waren.“ Und die Schriftsteller, sogar Martin Walser, findet sie auch immer langweiliger. Harry sieht sich insgeheim bestätigt. Harry hatte mit Literatur eigentlich nie was am Hut. Vielleicht kommen Harry und Lore sich auch dadurch wieder näher.  „Ich glaube, ich liebe dich noch“, fällt Lore dann tatsächlich auf, und Harry antwortet trocken, aber nicht unbegeistert: „Sag mir Bescheid, wenn du es genau weißt.“

Als sie dann doch zu der Spießerhochzeit ihrer Tochter fahren, amüsieren sie sich über die Gäste und deren (Un-)Kultur – wieder viel Gemeinsames. Dennoch gibt es kein Happy-End, was allerdings nachdenklich dann auch machen kann.

In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG verreißt Kristina Maidt-Zinke den Gemeinschaftsroman von Elke Heidenreich und Bernd Schroeder und wirft dem Buch vor, nicht viel mehr als „gemütvolle Seniorenunterhaltung“ zu sein.

Aber das ist doch schon was. Die „gemütvolle Seniorenunterhaltung“ ist jedenfalls durchaus zu empfehlen.

Bewertung:    ∗∗∗∗

(5 Sterne = Höchstwert)

(Rolf Eickmeier)

 

Dietmar Dath: Deutsche Demokratische Rechnung. Eine Liebesgeschichte, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2015, 240 Seiten, 17,99 Euro.

 

Diese „Liebesgeschichte“ ist äußerst politisch und sie ist äußerst mathematisch. Das mag für manche sperrig und befremdlich sein. Wer neugierig bleibt, der erfährt Ungewöhnliches über den gescheiterten Sozialismus der DDR, er kann Bezüge herstellen zu der heutigen alternativen politischen Szene und ihm begegnen Charaktere, die immer mit sich und ihren Erkenntnissen kämpfen. Und nicht zu vergessen, mathematische Erkenntnisse werden zu politischen Utopien.

Vera, eine junge Frau, der Beziehungen zu spießigen und angepassten Männern zuwider sind, nimmt Abschied von ihrem verstorbenen Vater, mit dem sie lange keine Beziehung mehr hatte. Nun, bei der Abwicklung seines Nachlasses nähert sie sich ihm, besonders seinen politischen Ideen, wieder sehr stark an. Ihr Vater ist Otto Ulitz, Mathematikprofessor und Wirtschaftskoryphäe unter Ulbricht in den Anfangsjahren der DDR, in den 1980er Jahren ins Abseits gestellt und nun in Einsamkeit gestorben. Otto Ulitz war überzeugt, der Sozialismus der DDR sei zu retten gewesen – mit einem flexiblen Planungssystem, das Chancengleichheit, individueller Leistung und Effektivität den Vorrang vor stupider gesamtstaatlicher Planung gegeben hätte. Diese These versuchte er in chaotischer Einsamkeit mit mathematisch-politischen Ausarbeitungen plausibel zu begründen.

Beim Lesen kann sich dadurch durchaus eine staunende Faszination entwickeln. Es leuchtet schließlich auch dem mathematischen Laien ein, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen einem Kreis in einem Quadrat (zwei Dimensionen) zur größtmöglichen Kugel in einem Würfel (drei Dimensionen) gibt. Der Inhalt des Würfels wachse relativ (ab der fünften Dimension sogar absolut) schneller im Vergleich zur Kugel. Nun komme es in der gesellschaftlichen Planung darauf an, so viele Dimensionen wie möglich zu berücksichtigen. Genau dies sei im immer starrer werdenden politischen System nicht mehr möglich gewesen. Die DDR scheiterte und wurde aufgelöst. Anderes wäre möglich gewesen.

Die Frage, gibt/gab es nicht doch eine sozialistische Alternative zum vorherrschenden kapitalistischen System, finden manche politisch Interessierte bestimmt auch heute noch spannend. Auf jeden Fall die, die persönlich eine gesellschaftskritische und antikapitalistische Geschichte haben. Vielleicht auch die, die in der gegenwärtigen „linken Szene“ in Auseinandersetzungen verstrickt sind. In dieser Szene bewegt sich auch Vera, will aber auch als Verkäuferin für ihr Auskommen sorgen.

Dann auch das: Es entsteht eine Liebesgeschichte mit dem Journalisten Frigyes. Er interessiert sich für sie, kann zuhören, sie lieben sich. Er scheint anders zu sein als alle anderen Männer. Es wäre zu schön gewesen, wenn nicht bald klar würde, dieser grün-ökologisch orientierte Karrierejournalist hat Vera ausgenutzt. Für eine tolle Story will er an die Ausarbeitungen ihres Vaters, die „Ulitz-Papiere“, herankommen.

Was bleibt? Die Freundschaft zu einem immer nur essenden treuen Bekannten, vielleicht die Faszination der Mathematik mit ihren politisch alternativen Möglichkeiten und damit die Nähe zu ihrem damit gescheiterten Vater.

Bewertung:    ∗∗∗∗

(5 Sterne = Höchstwert)

Meine Empfehlung: Lesen und diskutieren. Am besten gleich hier.

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Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise
Luchterhand Literaturverlag, München 2019
543 Seiten, 24 Euro

Dies ist ein Roman, der ein tiefgründiges Gefühl für weithin unbekannte Wirren der europäischen Geschichte des 19. Und 20. Jahrhunderts entstehen lässt, vor allem dabei der südosteuropäischen. Dieses Basis-Geschichtsgefühl kann vielleicht auch zu einem tieferen Verständnis der allgemein bekannten Geschichtsschreibung führen.

Dies erfordert jedoch einige Mühen. Die 534 Seiten deuten schon darauf hin. Vor allem muss man sich in Unbekanntes und eigentlich immer auch Unbeachtetes hineinlesen. Und man muss immer wieder die „historischen Anfälle“, die ausufernden assoziativen Geschichtserzählungen der fast 100-jährigen Hauptperson Wenzel Winterberg, ertragen oder nach und nach daran Gefallen finden.

In dem Roman „Winterbergs letzte Reise“ von Jaroslav Rudiš begleitet der Altenpfleger Jan Kraus den todkranken Patienten Wenzel Winterberg auf seiner letzten Zugfahrt – er nennt es „Überfahrt“ – quer durch Südosteuropa. Mit der Eisenbahn kommen sie nach  Pilsen, Budweis, Linz, Budapest, Brünn, Zagreb, Sarajewo, Berlin, Peenemünde und am Ende auf die Insel Usedom. Und natürlich nach Königgrätz. Denn was sich dort 1866 abspielte, ist für Winterberg der Angelpunkt der europäischen Geschichte schlechthin. Die Schlacht gilt ihm nicht nur als verheerende Niederlage Österreichs, sondern auch als ein Sieg Preußens, „der sich später auch zu einer Niederlage und in eine noch viel größere Feuerkatastrophe verwandelte“.

Kultur- und politische Geschichte hat nach Winterbergs Überzeugung viel zu tun mit modernem Bestattungswesen, mit dem von Rudolf Bitzan entworfenen Krematorium, von ihm als „Feuerhalle“ bezeichnet. In Reichenberg, seiner Heimatstadt, gab es eines der ersten Krematorien. Sein Vater leitete es, und es wurde ihm zum Verhängnis. Glaubensfragen werden durch die unterschiedlichen Bestattungsrituale aufgeworfen. All das bleibt historisch nicht ohne schlimme Folgen. Europäische Geschichte ist aus Winterbergs Sicht auch Eisenbahngeschichte, zum Beispiel mit Carl von Ghegas Bau der Semmeringbahn oder der „Die Überschienung der Alpen“. Das Zitat eines zum Freund gewordenen englischen Kriegsgegners lässt sich immer anwenden. Er hatte Winterbergs Herzenslandschaft als „the beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins“ bezeichnet. 

Durch Winterbergs Erzählungen zieht sich zudem die Suche nach seiner „Frau im Mond“, seiner großen Liebe, nach der wahrscheinlich durch Nationalsozialisten ermordeten Jüdin Lenka. Sein Trauma ist die Vorstellung, er hätte Lenka durch mehr Mut retten können, er hätte sich jedenfalls nicht selbst retten dürfen.  

Viele sagen, diese Romanreise sei zu lang geraten. Es ist ein unüblicher, manchmal ausufernder Erzählfluss durch 100 Jahre europäischer Konfliktgeschichte. Man kann das langatmig und langweilig finden, man kann sich aber auch in diesen Erzählstrudel hineinziehen lassen.

Bewertung:    ∗∗∗ 

(5 Sterne = Höchstwert)

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Robert Löhr: Das Hamlet-Komplott. Roman.
Piper Verlag, München ; Zürich 2010.
358 Seiten, 19,95 EUR.

Noch ein historischer Roman. Aber ein ganz schräger. Die Größen der deutschen Dichtung und Geistesgeschichte ziehen gemeinsam durch die Lande. Sie wollen und müssen ungeahnte Abenteuer überstehen, sie schlagen sich mit all den kleinen Überlebensfragen des Alltags herum, verstricken sich in politische Scharmützel und entkommen immer wieder bedrohlichen Situationen, indem sie auf ihrer klapprigen Wanderbühne Freund und Feind dann doch in ihren Bann ziehen. Nicht selten ist ein derbes Gelage die Belohnung.

Die Dichtertypen, die sich zusammengerauft haben, sind keine geringeren als Ludwig Tieck, der Initiator der abenteuerlichen Aktion, Johann Wolfgang Goethe, August Wilhelm Schlegel, zudem Germaine des Stael, die zusammen Heinrich von Kleist aus französischer Festungshaft retten wollen. Eine anmutige junge, politisch scheinbar eher naive Schauspielerin und ihr später auch schauspielernder Hund fahren auch noch mit. Ludwig Tieck verliebt sich unsterblich in sie. Bevor es ein Happy End geben kann, stellt sich am Ende heraus, sie arbeitete die ganze Zeit für den französisch napoleonischen Geheimdienst.

Die Handlung spielt im Jahr 1806, Preußen koaliert mit Russland, Frankreich soll aus den Maingebieten abziehen und im Oktober wird Napoleon in Jena und Auerstedt die preußischen Truppen vernichtend schlagen. Das Symbol des deutschen Reiches, die Krone des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“, wurde gerade niedergelegt und die deutsche Nation, nur noch eine fiktive Idee, hat ihre letzte Hoffnung für ein vereintes Vaterland verloren. Nur Heinrich von Kleist hält stur an der Reichsidee fest. Er will die Krone, die er in einem Versteck aufgestöbert hat, dem preußischen König überbringen, den er für den einzigen legitimen Herrscher über die deutsche Nation hält. Das ist natürlich in den von Napoleon beherrschten Gebieten immer wieder sehr gefährlich. Auch die Mitglieder der bunten Schauspieltruppe halten diese Idee für eher verrückt.

Gut, dass die Schauspieltruppe die Idee hatte, Shakespeares Hamlet in der ihnen eigenen Not-Version in brenzligen Situationen zum Besten zu geben. Das ist immer wieder ihre Rettung.

Der Autor Robert Löhr hat sich wahrscheinlich gefragt, was die Literaturgrößen in den politischen Konflikten zu Beginn des 19. Jahrhunderts gesagt und getan hätten. Ein interessantes Gedankenexperiment und spaßig dazu.  

Bewertung: ∗∗∗∗

(5 Sterne = Höchstwert)