Hermann Haack erinnert an Willy Brandt

Anlässlich des 100. Geburtstages des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt hielt Hermann Haack (ehem. Mitglied des Deutschen Bundestages)  in einer Feierstunde der lippischen SPD eine Erinnerungsrede. Wir dokumentieren diese Erinnerungen des Vorsitzenden der Lippischen Gesellschaft für Politik und Zeitgeschichte vor allem, weil Willy Brandt in seiner aktiven Zeit niemanden unberührt ließ und weil seine Politik wegweisend für die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland war.

 

Der 18.Dezember 2013 – Der 100. Geburtstag von Willy Brandt

Ein Wortbeitrag von Karl Hermann Haack, MdB a.D.

Willy Brandt weckt viele Erinnerungen

Gehen wir gemeinsam zurück in das Jahr des Mauerfalls 1989. Er, Willy Brandt, ist seit 1974 nicht mehr Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Es ist die erste Sitzung der SPD- Fraktion nach dem Mauerfall im November 1989. Er, liebevoll Willy genannt, tritt ein in den Fraktionssaal der SPD, Beifall brandet auf, danach breitet sich ein erwartungsvolles Schweigen aus.
Wie in einem Kaleidoskop stürzen sich die Erinnerungen vergangener Jahre in mir übereinander. Es geht anderen aber ebenso. Was habe ich, was haben wir nicht alles in den Jahren veranstaltet, ihn, Willy, zu unterstützen. Willy wählen hieß der Button, den wir alle 1972 verteilten, der Wahl nach dem Misstrauensvotum. Der Sieg, den wir damals einfuhren, war Aufforderung zu längst fälligen Reformen. Mit dieser Wahl waren wir erstmals stärkste Fraktion im Deutschen Bundestag. Es herrschte unter uns eine unheimliche Aufbruchsstimmung, Reformen nach innen und außen, das soll es sein. Wir wollen loslegen. Vorbei die Jahre der Stagnation, der Erstarrung in Zeiten des kalten Krieges.
Mir gehen am heutigen Tag in der Fraktion Freude, Stolz, Hoffnung durch den Kopf. Aber auch bange Fragen stellen sich ein.
Hans Jochen Vogel, der Fraktionsvorsitzende, erteilt Willy Brandt das Wort. Dieser lässt holzschnittartig das politische Panorama der vergangenen 40 Jahre vor unseren Augen vorbeiziehen, beschreibt die Aufgaben, die uns in der neuen Zeit jetzt gestellt sind, sagt, dass die Münzen der künftigen Zeit in dem Heute liegen, er meint die erfolgreiche Wiedervereinigung. Ein Jeder findet sich in seinen Worten wieder, auch ich.

Von Willy Brandt erzählen 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Genossinnen und Genossen,

Es ist heute der 100. Geburtstag von Willy Brandt. Wir schreiben den 18.12.2013. Wir wollen ihn gemeinsam feiern, indem wir alle da sind, Zitate von ihm hören, einer Musik lauschen, die dem heutigen Anlass angemessen ist.
Rainer Brinkmann sprach mich vor Wochen darauf an, ob ich bereit sei, aus eben diesem heutigen Anlass, eine Rede zu halten. Ich gab zu bedenken, dass bereits viele Veranstaltungen geplant sind, Sonderhefte von Stern, Zeit und Spiegel ausliegen. Ebenso sind aus diesem Anlass zahlreiche Bücher erschienen, im Fernsehen ist es das Thema. Große Reden werden gehalten. Was gibt es dazu dann noch aus meiner Sicht zu sagen, wenn bereits seit Wochen alles gesagt ist? Rainer Brinkmanns Antwort war einfach und damit einleuchtend. „ Du sollst keine staatstragende Rede halten, kein Willy Brandt Literaturreferat , sondern versuchen, zu erzählen, wie Du ihn erlebt hast. Halte weniger eine Rede, sondern lass uns durch Dein Erzählen an Deiner Erinnerung teilhaben. Du warst doch in seiner Nähe.“. Ich stimmte zu, heute keine Rede zu Willy Brandt halten, sondern etwas von ihm zu erzählen.

Du kannst ruhig Willy sagen

Die Nähe zu Willy Brandt, die gemeint war, erlebte ich in ganz anderer Form, als ich erwartet hatte: Am 25.Januar 1987, der Wahl zum 11. Deutschen Bundestag wurde ich erstmals in den Bundestag gewählt. Allgemein bekannt ist, dass sich die großen Fraktionen unter anderem in Landesgruppen organisieren, ich war also Mitglied der NRW-Landesgruppe. Franz Müntefering war zu der Zeit Vorsitzender dieser Gruppe. Am Abend der konstituierenden Sitzung stellte ich mich bei ihm vor. „Dein Platz hier ist dort drüben an dem OWL-Tisch.“, war sein Hinweis. An diesem Tisch saßen bereits Lothar Ibrügger Minden, Dieter Heistermann, Detmold, Höxter, Warburg, Günter Rixe, Bielefeld, Rolf Koltzsch, Herford und andere. Zwei Stühle waren frei. Ich setzte mich auf einen der beiden, um gleich wieder von Dieter Heistermann hochgejagt zu werden. „Du, das ist seit Jahren der Stuhl von Willy, der muss immer freigehalten werden, ob er kommt oder nicht. Setz Dich daneben.“ ….Ich tat, wie befohlen. Und er, Willy Brandt, kam an diesem Abend, setzte sich neben mich, begann zu rauchen. Nach verflossener Zeit stellte ich mich vor, sagte ihm, woher ich käme und was ich bisher gemacht hätte. Er konnte mich sofort einordnen, als ich erwähnte, das mein Vorgänger Erhard Mahne gewesen sei. Ich redete ihn dabei mit „Herr Bundeskanzler“ an. Mein Part war zu Ende, er beugte sich zu mir, streckte mir seine Hand entgegen und sagte: „Wir sind Genossen, Du kannst ruhig Willy sagen“. Schon eine trefflich witzige Situation.

Willy Brandt war danach nicht oft in der Landesgruppe. Wenn er kam, blieb er meistens lange, er pflegte die Unterhaltung mit uns. Daraus entwickelte sich eine zeitlich begrenzte Nähe zu ihm, die Einblicke in seine Person ermöglichte, natürlich ebenfalls begrenzter Art, da er immer, bei aller Fröhlichkeit distanziert, ja introvertiert wirkte und wiederum sehr gesellig sein konnte.
Es waren besondere Anlässe, zu denen er kam. Mir in Erinnerung sind drei große Themen:

  • Reform des Asylrechtes, verbunden mit einer Grundgesetzänderung,
  • die erste militärische Teilnahme der Bundeswehr an Auslandseinsätzen,
  • das Jahrhundertprojekt Deutsche Einheit und damit Europa weiter bauen.

Bevor ich weiter zu diesen Themen berichte, schnell noch einmal zur gemeinsamen Erinnerung einige biografische Notizen zum Lebenslauf von Willy Brandt, verbunden mit späteren Einsichten und gemachten Erfahrungen meinerseits.

Biografische Notizen: Politische Jugend – Exil – Widerstand

Geboren ist er am 18. Dezember 1913 in Lübeck. Wir wissen, dass er unehelicher Herkunft war, er hieß Herbert Ernst Karl Frahm. Er durchlief als uneheliches Arbeiterkind das bürgerliche Gymnasium seiner Heimatstadt. Er hatte einen Freiplatz, so nannte das man damals. Ausdruck einer Dotation, einer spendablen Haltung der bürgerlichen Klasse gegenüber einem begabtem Kind die Arbeiterklasse. Für uns heute unvorstellbar.

Gleichwohl blieb er dem klassischen Arbeitermilieu verhaftet. Sein Mentor war Julius Leber, den die Nazis als Mitglied des Kreisauer Kreises im Zusammenhang des Attentates auf Hitler am 20.Juli 1944 noch am 1. Januar 1945 hingerichteten. Er war der Vater des Gewerkschafters Julius Leber, dem späteren Minister im Kabinett von Willy Brandt-

Früh war Willy Brandt politisch tätig, prägte mit die innerparteilichen Auseinandersetzungen um den rechten Weg der Deutschen Sozialdemokratie, wurde 1928, also im Alter von 15 Jahren, Bezirksvorsitzender der Sozialistischen Arbeiterjugend. 1931 gründete er den Ortsverband der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands in Lübeck, eine sektiererische Abspaltung von der SPD der damaligen Weimarer Republik. Die Linke in Deutschland hatte sich wie im anderen Europa gespalten und führte ihre ideologisch aufgeladenen Kämpfe untereinander. Das nahm Kraft für den Kampf gegen rechts. Nachzulesen ist dieses europäische Drama in der Trilogie von Manes Sperber: „Wie eine Träne im Ozean“.

1933 erfolgte die Machtergreifung der Nazis im Deutschen Reich. Wir erinnern uns der Rede des SPD-Vorsitzenden  Otto Wels bei den Beratungen zum Ermächtigungsgesetz im Reichstag – diesen Satz meißelte er für die deutsche Demokratiegeschichte in Stein: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Die Deutsche Sozialdemokratie war die einzige Fraktion, die gegen das Gesetz stimmte.

Willy Brandt entzieht sich der drohenden Verhaftung, indem er in den Untergrund geht, dann flüchtet er in das Exil nach Norwegen und später nach Schweden. Norwegen wird von den Nazitruppen besetzt. Sein Tarnname ist Willy Brandt, dieser Name wird sein legaler später in Berlin nach dem Krieg.

Diffamierung im Nachkriegsdeutschland

Wie wurde dieser Lebensabschnitt nach dem Krieg bewertet?

1961 in dem Jahr des Mauerbaus und der Bundestagswahl ist es Konrad Adenauer, der auf einer Wahlveranstaltung in Süddeutschland auf die uneheliche Geburt von Willy Brandt, seines Gegners, anspielt: „Brandt alias Frahm“ so lautete die Formulierung. Franz Josef Strauss stellte auf der Aschermittwochveranstaltung in Vilshofen die Frage, wo er, Willy Brandt, und all die anderen denn gewesen wären, als es galt, das Vaterland gegen die Russen zu verteidigen. Die klassische Debatte an deutschen Stammtischen.

Das begriffen weite Teile der bundesrepublikanischen Gesellschaft, wir, als eine ungeheure Provokation. Das Ziel dieser Provokation war, die Denunziation des gesamten deutschen Widerstandes. In Folge schied sich die BRD in zwei Lager, da man angesichts dieser Provokation Partei ergreifen musste. Und es wurde Partei ergriffen. Das musste man, das war Pflicht gegenüber dieser Boshaftigkeit, nein diesem Gift. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Sie war in Form und Inhalt subtiler und damit verletzender als die grobe Art von Adenauer und Strauss. Willy Brandt begann im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern von dem „anderen Deutschland“, dem „anständigen Deutschland“ zu sprechen, als ein Abgrenzungsmerkmal zu denen, die Täter und Mitläufer im Nazireich gewesen waren und sich weigerten, sich zu bekennen. Uns hat diese Auseinandersetzung gefallen, zumal sie Stoff gab für die kabarettistische Szene.

Aber zurück:
Das Exil von Willy Brandt war geprägt, einen Restwiderstand in Deutschland zu organisieren, international die Kraft der europäischen Linken zu stärken, aber Stalin und Hitler waren zu mächtig. Willy Brandt wusste um die Schwächen, der Spaltung der europäischen Linke, aber er gab nicht auf.

Er reiste illegal durch Europa, immer um den Widerstand gegen den Faschismus zu organisieren.

Berliner Bürgermeister und Annäherung im Alltag zwischen Ost und West

Nach dem Krieg kehrte er nach Berlin zurück, war Mitglied des Abgeordnetenhauses. Wurde Bürgermeister dieser Stadt. Ja, er war ein würdiger Nachfolger der großen Bürgermeister von Berlin: Ernst Reuter und Otto Suhr. Prüfungen blieben ihm nicht erspart. Ich nenne hier eine: den Bau der Berliner Mauer von 1961. Als wir uns 1990 einmal in der NRW – Landesgruppe nach dem Mauerfall über die politischen Konsequenzen der 1961 errichteten Mauer fragten, sagte er sinngemäß: Wir versuchten eine Politik zu formulieren, die die Folgen der Trennung von Menschen im Alltag überwinden hilft und zugleich der Beginn eines zu spinnenden Fadens ist, der am Ende stark genug sein wird, die Dinge in Europa neu zu ordnen… Eine konkrete Vorstellung gab es dafür nicht, bemerkte später einmal Egon Bahr an anderer Stelle. Es ging um Schritt für Schritt, belauert von Freunden und Feinden, so sah er es im Nachhinein.

Man handelte von 1963 bis 1966 insgesamt vier Passierscheinabkommen aus, das Westberlinern ermöglichte, Verwandte, Freunde und Bekannte zu besuchen. Ich lebte damals bereits in Berlin, erlebte die Wirkung der vier Abkommen, die Dynamik, die darin steckte.

Einer von der anderen Feldpostnummer jenseits der Mauer hatte aber sofort begriffen, worum es bei den Abkommen eigentlich strategisch ging, nämlich aus der Mauer einen löcherigen Käse zu machen. Er hieß Walter Ulbricht, damals der mächtigste Mann in der DDR, in Moskau verhasst. Er konnte die Abkommen nicht verhindern, ebenso wie Konrad Adenauer mit seiner rechten Truppe. Für Walter Ulbricht waren die Abkommen –Zitat- „ Der Imperialismus auf Filzlatschen“. Dies wurde auch so verstanden.

Auseinandersetzungen um die neue Ostpolitik und der Aufbruch der Studentenbewegung

Er war Bürgermeister dieser Stadt von 1957 – 1966. Trotz anderer politischer Auffassung, – ich engagierte mich damals bereits in der aufkeimenden Studentenbewegung – faszinierte mich an Willy Brandt die Kraft seiner Worte und das Maß an Vertrauen, das man ihm entgegen brachte. Ich begriff damals, obwohl auf einem anderen politischen Weg, dass es in der Politik weniger darauf ankommt, recht zu haben, als die Menschen auf den rechten Weg mitzunehmen. Hier sei erlaubt, sinngemäß Johannes Rau zu zitieren, der Eiferern in der Partei den Rat zu geben pflegte, dass man im Volk mit der Fahne ruhig vorangehen kann, aber aufpassen sollte, dass man nicht zu weit vorn läuft, dann – Zitat – „lauft ihr allein und seid dann auch allein.“ Ich erwähne hier auch das Wort von Konfuzius „der Weg ist das Ziel“, was meint, wir gehen gemeinsam des Weges und beraten uns über die nächsten Schritte , um an das Ziel zu gelangen

1966 -1969 die Große Koalition. Willy Brandt der Vizekanzler und Außenminister. Die vier Passierscheinabkommen mutierten zur neuen Ostpolitik, die weiter von den Gegnern erbittert bekämpft wurde.  An vorderster Front Richard Löwenthal, Medienstar der rechten Szene, Frontmann im ZDF. Der Frontmann für uns Peter Merseburger, ARD, die Sendung Panorama. Dazwischen Dieter Hildebrand mit seinem Scheibenwischer. Für uns aufregende Jahre-

Dazu gehörte aber auch in dieser Zeit das Erstarken der Studentenbewegung, ich mit dabei. Es fing an mich, uns zu zerreißen. Es kam in einem alles hoch über das, was diese vermeintlich konservativen Eliten alles zu verantworten hatten, ja, so Willy Brandt, sie hatten Deutschland verraten, sich dennoch angemaßt, ausschließlich die Republik in ihrem Sinne zu gründen, straff antikommunistisch nach innen und außen, unfrei im Geist. Diether Posser, der spätere Justizminister NRW, hat das alles in einem Buch über politische Prozesse zu Beginn der BRD beschrieben. Die Reste der Klassengesellschaft zu zertrümmern, das war unser Ziel als jüngere Generation.

Neben der Fortsetzung der Ostpolitik stand der allgemeine Zugang zu Bildung als Weg zur Freiheit, als Ausdruck der Mündigkeit, Leben auf gleicher Augenhöhe würde man heute sagen, im Fokus der Auseinandersetzung. Dieser Kampf nahm teilweise Züge eines Kulturkampfes an. Mit dem Begriff der Leistung versuchten die konservativen Schichten ihr historisch nicht begründbares Bildungsmonopol zu retten. Dem setzte der Bildungsforscher Picht das Grundrecht auf Bildung entgegen.

Ebenso der von konservativer Seite gestartete Versuch, uns eine Wertedebatte mit dem Ziel aufzuzwingen, einen von ihnen definierten Lebensstil anzunehmen.
Auf all das reagierte die Straße. Politisches Happening war die Antwort der Straße. Oder im Gerichtssaal: der Kommunarde Fritz Teufel beantwortete die Aufforderung des Richters, gefälligst aufzustehen, wenn er gefragt sei, mit dem Satz: Ja, wenn es der Wahrheitsfindung dient. Oder im Hörsaal: Studenten tragen gewissermaßen als Vorspann einmarschierender, in Talaren gekleideten Professoren zur Eröffnung des Semesterjahres das Plakat voran, darauf zu lesen: Unter den Talaren, Muff von tausend Jahren.

Mentor in dieser Auseinandersetzung war für uns Willy Brandt, getreu nach seinem Motto, das richtige Wort zur richtigen Zeit. In unserer Ungeduld oft zu spät.

Schmerzliche Aufarbeitung der Vergangenheit

In den Jahren davor zu Beginn der 60-iger Jahre war alles von uns auf die Probe gestellt worden. Alles Vergangene kehrte zurück, die Nazizeit und deren Bewältigung bzw. Nichtbewältigung. Vor der Großen Koalition, vor der Kanzlerschaft von Willy Brandt hatte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ab 1963 die Auschwitzprozesse aufgerufen; er war als jüdisch Verfolgter, nach KZ-Zeit und Exil in Norwegen zurückgekehrt und trat als Ankläger in den großen Naziprozessen auf.

Rudolf Augstein begleitete diese Prozesse im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ mit eigenen Recherchen und Berichterstattung des Organs und zwang uns dadurch als Nachkriegsgeneration, sich dem Satz zu stellen: Nichts ist grausamer als die Wahrheit! der dann in die Frage an die Elterngeneration folgte, und wo ward ihr? Der Begriff Täter- und Opfergeneration entstand. Vieles zerbrach an Familienbanden, Freundschaftskreisen, aber es baute sich auch Neues auf als linkes Milieu aus Gewerkschaften, Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern und sammelte sich in der Folge der Zeit um die Person von Willy Brandt als Kristallisationspunkt einer neuen Zeit. Mir erinnerlich ist das Bild von Ingeborg Bachmann, Günter Grass und anderen mit Willy Brandt, es war eine Aufnahme zur Kampagne „Willy Wählen!“

Engagierter Partner war die evangelische Kirche; man denke an die Denkschrift zur Ostpolitik zu späterer Zeit, als es um Parteinahme für den Ausgleich, nein der Aussöhnung mit dem Osten ging.

Friedensbewegung und Proteste

Dies alles war nicht vom Himmel gefallen, sondern hatte sich schon lange angebahnt, gewissermaßen parallel zur konservativen Gründung der BRD. Das alles waren Zeichen an der Wand, um einen alttestamentarischen Begriff zu gebrauchen. Meine Generation erinnert sich noch der Anfänge der Friedensbewegung, der Gesamtdeutschen Volkspartei. Prominente wie Gustav Heinemann, Gründungsmitglied, Uta Ranke-Heinemann, Heinrich Albertz, Martin Niemöller,ein ehemaliges Mitglied der Bekennenden Kirche der Barmer Synode, Diether Posser, später Justizminister in NRW und viele andere mehr waren darunter, hier in Lippe Pastor Heinrich Diestelmeier aus Bad Salzuflen, Karl Rauchschwalbe, unser streitbarer Genosse und Mentor der Jusos.

Literatur und politisches Kabarett gruppierten sich früh um Willy Brandt, politische Magazinsendungen taten rechts wie links das ihrige. Das Land Bundesrepublik Deutschland teilte sich. Alles, was einen Schnitt mit der Zeit nach 1945 als Zeit des stupiden Antikommunismus machen wollte, starrte auf Willy Brandt. Den Gegnern fielen nur als Antwort die Notstandsgesetze ein. Es ist wie immer bei den Konservativen: die Angst vor dem eigenen Vorurteil.

Dass dies von mir Berichtete mehr als eine politische Jugendbewegung war, macht der Lebenslauf von Gustav Heinemann, ein Exemplar protestantischen, liberalen Großbürgertums deutlich. Sein Lebensweg von früher Mitgliedschaft in der CDU, sein Austritt aus dieser Partei wegen der Unversöhnlichkeit gegenüber den Oststaaten, er gründetet mit die Gesamtdeutsche Volkspartei und nach deren Untergang die Entscheidung, der SPD beizutreten, das war ein langer Weg zu Willy Brandt, weniger zur SPD.

So bei mir ähnlich. Wer erinnert sich noch der Osterunruhen von 1969. Es war Straßenkampf in Berlin um das Springerhochhaus angesagt. Alles eskaliert, es brannte, wir gehen weg. Diskutieren die Nacht, fällen die Entscheidung, dass die Unterscheidung von Gewalt gegen Sachen ja, Gewalt gegen Menschen nein, eine Täuschung ist, dass diese Unterscheidung letztendlich in Gewalt führt. Wir trennen uns im Freundeskreis von der Bewegung. Alte Zweifel bekommen die Oberhand.

Einladung zur politischen Mitarbeit

Der zweite Ostertag: Nach der Tageschau spricht im Fernsehen Gustav Heinemann, der Bundespräsident, zu uns. Er gebietet Einhalt, fordert uns auf, die Verfassung als Angebot zur politischen Mitarbeit anzunehmen und fordert uns auf, in die Parteien einzutreten. So auch mich.

Ich trete dann im Sommer bei, werde 1973 Ortsvereinsvorsitzender in Bösingfeld und …ja was? Der Streit um die Ostverträge, die Egon Bahr verhandelt, eskaliert. Wir wissen, wir müssen etwas tun. Und wir tun was. Organisieren Polenfahrten, wie andere Ortsvereine auch. Damit zeigen wir Flagge. Wir haben den Mut, Vertriebene anzusprechen und mit ihnen ihre alte Heimat zu besuchen. Kaum Absagen. Dramatische Augenblicke, wenn wir als Begleitung helfen müssen, über die Schwelle des zum Kriegsende verlassenen Hauses zu kommen. Ja, so die erste Entgegnung der Neubewohner: „Wir haben Sie erwartet“. Für beide Seiten nach schwerem, beidseitigem Leid: es ist vollbracht. Die Stimmung löst sich. Freundschaften, die über Jahre halten, werden geschlossen. Wir vom Ortsverein sind gewiss, das versteht Willy Brandt unter Versöhnung, guter Nachbarschaft. So etwas Das kann nur über politische Ameisenarbeit gelingen, also eilen wir.

Wir wissen, die Kanzlerschaft von Willy Brandt währte von 1969 bis 1974. Ich will nicht referieren, was andere aufgeschrieben haben, sondern glaube dargestellt zu haben, wie sich das alles in mir, bei uns im Kontext zu Willy Brandt abgespielt hat. Für mich unglaublich, unter was für einen inneren Imperativ man gestanden hat. Um einen Begriff der Kommunikationsforschung zu gebrauchen, wir standen in einem inneren narrativen Dialog mit Willy Brandt. Er erfüllte das, was wir erwarteten, wir erfüllten das, was er erwartete, das brachte Nähe zu ihm, für ihn Nähe zu uns. Der Radikalenerlass war Stachel im Fleisch dieser politischen Symbiose.

Sein Nachfolger Helmut Schmidt war Kontrapunkt. Er setzte die Entspannungspolitik mit anderen Mitteln fort, Stichwort Nachrüstungsbeschluss, der gelungene Versuch, die Sowjetunion an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten zu führen. Die KSZE-Schlussakte von Helsinki setzte einen Schlusspunkt. Helmut Schmidt schied als Kanzler aus, die Ära Kohl hatte der Friedens- und Entspannungspolitik nichts hinzuzufügen, im Gegenteil, die antikommunistische Rhetorik fasste wieder Fuß, aber lahmte bald.

Entscheidungen zum Asylrecht

Ich komme zurück auf die drei großen Themen, die ich eingangs erwähnt und deren Beantwortung mich insbesondere geprägt hat. Das Asylrecht, die Auslandseinsätze der Bundeswehr und die Einigung Deutschlands und die Europäische Frage.

Diese drei Themen waren neben täglichen Lebensfragen Gegenstand von Besuchern meiner Sprechstunden, der Veranstaltungen und Besuchen in Schulen. Bestürmt wurden wir als Abgeordnete vor der Abstimmung zum Asylrecht und der damit notwendigen Änderung des Grundgesetzes. Am Abend vor der Abstimmung tagte die Landesgruppe und Willy Brandt ergriff das Wort. Meine protestantische Erziehung, meine Verbindung zur Friedenbewegung und vieles mehr verunsicherten mich, eine Entscheidung zu treffen. Der anwesende Willy Brandt ergriff das Wort, berichtete von seiner Flucht in das Exil, nachts auf dem Fischerkahn unter der Plane und beschrieb dann die damals gegenwärtige Situation der 80-iger Jahre. Asyl als Flucht vor Armut. Er stellte die Frage nach einem notwendigen Unterschied eines Asylgesuchs auf Grund aktueller individueller Verfolgung und der Möglichkeit, über ein Gesuch auf Asyl, einer Armut als Folge struktureller, politisch bedingter Gewalt zu entkommen. Er bezog sich dabei auf den Bericht der Nord-Südkommission, deren Vorsitzender er gewesen war. Dieser war 1980 veröffentlicht worden. Dieser Bericht ist noch heute in seinen Aussagen stimmig. Willy Brandt begründete seine Auffassung daraus im Einzelnen, er war für uns glaubhaft, da einer sprach, der selbst ins Asyl hatte fliehen müssen. Dennoch würde ich heute gern fragen: Was ist zu den Flüchtlingsbooten vor Lampidusa zu sagen, zu einem Punkt der Entwicklung, in dem die Flucht ins Asyl vor Armut und struktureller Gewalt zu einem Milliardengeschäft Dritter geworden ist. Ich weiß es nicht.

Die deutsche Einheit

Die Vollendung der Deutschen Einheit hat er begleitet, machte uns gegenüber keinen Hehl aus seiner Enttäuschung über den negativen Ausgang für die SPD bei der ersten deutschen gemeinsamen Wahl für ein deutsches Parlament. Er warb verdeckt in der Landesgruppe für Berlin als zukünftigen Regierungssitz und freute sich sichtbar, als Berlin es dann wurde. Er wurde danach für mich langsam zu einer historischen Figur, so empfand ich sein Reden und seine Körpersprache. Er kam auch nicht mehr in die Landesgruppe. Sein Platz an meiner Seite blieb leer. Ich begriff allmählich, dass er für immer leer bleiben würde. Willy Brandt verstarb am 8.Oktober 1992 in Unkel am Rhein gelegen. Rückblickend auf ihn, darf ich privat sagen, dass mir dabei immer wieder das Büchlein von Alexander und Margret Mitscherlich von der vaterlosen Gesellschaft einfällt, der Versuch zu beschreiben, des Suchens nach Orientierung einer vaterlos aufgewachsen Generation.

Friedensnobelpreis und Aufbau eines geeinten Europas

Szenenwechsel. Europa schottet sich ab. Es war immer schon modisch sich auf Kosten der europäischen Idee zu profilieren. Prägend wurde für mich die Idee von Europa beim Besuch 1970 der Soldatenfriedhöfe in Frankreich, später auf einer Radreise durch Finnland.

1971 erhielt Willy Brandt den Friedensnobelpreis. In seiner Dankesrede geht er auf den europäischen Gedanken ein und bezeichnet den Bau eines demokratischen und sozialen Europas als ein Friedensprojekt der Zivilgesellschaft, die ihre Lehren aus den beiden Weltkriegen gezogen hat. Gemeint waren als Lehre Tod, Vertreibung und Zerstörung. Es waren bittere Lehren. Von meinen 21 Klassenkameraden des Abiturjahrgangs 1961 hatten 16 den Vater verloren.

Die Vision als notwendigen Schluss zur europäischen Einheit begründet er aus der Schrift von Immanuel Kant zum ewigen Frieden, 1790 erschienen, 1789 das Jahr der französischen Revolution. In dieser Schrift spricht sich Immanuel Kant für einen Rechtsstaat im republikanischen Sinne aus, für ein Weltbürgertum und setzt die Idee eines geeinten Europas gegen die Gewaltherrschaft der Mächtigen. Hans Ulrich Wehler, der Bielefelder Nestor der Geschichtsschreibung, bezeichnet diese europäischen Kriege als Europäische Bürgerkriege und sieht in dem Ende des Zweiten Weltkrieges den Beginn der europäischen Einigung als Schlüssel zum ewigen Frieden in Europa. Diesen zu schaffen, dafür hat Willy Brandt Hand angelegt, uns auf seinen Weg mitgenommen. Hier liegt für uns allen ein Erbe, das im alltäglichen Gezänk um Europa nicht verspielt werden darf. Der Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien und der nachfolgende labile Frieden sollte uns Anschauung und Mahnung zugleich sein.

Wir haben es uns schwer gemacht mit den Auslandseinsätzen. Lange haben wir immer wieder darüber in der Landesgruppe debattiert. Es waren von Fall zu Fall Entscheidungen. Einmal hat sich Willy Brandt dazu geäußert, indem er beschrieb, wie die Staaten zerfallen, Fanatismus um sich greift. Es ist doch so, das war seine Einlassung, dass es deswegen schwierig sei zu entscheiden, weil das Völkerrecht an diesem Punkt aktuell ausgehebelt wird. Spieler halten sich nicht an die Spielregeln des Völkerrechtes. Daraus folgte für ihn ein “ja“, aber auch politisch darauf zu dringen, dass ein neues, der heutigen Situation angepasstes Völkerrecht geschrieben wird. Das gilt immer noch, fast über zwanzig Jahre danach.

Mehr Demokratie wagen

In seiner Regierungserklärung von 1961 prägte Willy Brandt den Satz „Mehr Demokratie wagen“. Damit wurde das Tor weit aufgemacht, um zu neuen Formen des Zusammenlebens und der Konfliktbeherrschung in einer sich herausbildenden, im Prozess befindlichen Zivilgesellschaft zu gelangen. Mit diesem Satz hat er den sozialen Bewegungen, die einen Platz neben den politischen Parteien einforderten , einen Spielraum zur Mitgestaltung unseres Gemeinwesens gegeben. Die Konservativen dieser Republik können mit diesem Thema immer noch nicht Großes anfangen. Mit dem Mitgliederentscheid haben wir, so denken viele, nicht nur ich, Willy Brandt zum 100. Geburtstag ein Geschenk gemacht. „Mehr Demokratie wagen“, das gilt auch für Formen der innerparteilichen Demokratie.

Nach dem Gespräch mit Rainer Brinkmann fahre ich nach Berlin, steige aus und bleibe fassungslos stehen. Das Bild von Willy Brandt als Mandolinenspieler ist auf allen Bahnsteigen der Aufmacher eines Sonderheftes der Zeit zum 100. Geburtstag von Willy Brandt. Es ist der Tag der Wanderung gewesen, als wir mit ihm im Teutoburger Wald wanderten, zu Mittag gemeinsam lagerten und er zur Mandoline griff, um uns vorzuspielen. Da war mir klar, es macht keinen Sinn, in das Kulturhaus Dussmann in die Friedrichsstraße zu gehen, um zu Willy Brandt zu stöbern, ebenso schenkte ich mir den Besuch der Willy-Brandt-Stiftung Unter den Linden. Nein, ich ging in meine Wohnung, Spiegelweg 7, gab mich meinen Erinnerungen hin und schrieb auf, was mir angeraten war zu tun.

Das habe ich Ihnen, Euch heute erzählt.

Ich danke dafür, dass Sie, Ihr mir zugehört habt.

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