Vor der Oper

Tiefe Eindrücke von der Politik und Zeitgeschichte konnte die Reisegruppe der Lippischen Gesellschaft während der einwöchigen Themenreise in Lviv und Umgebung in der westlichen Ukraine gewinnen. Lviv (Lemberg) ist nicht nur geographisch westlich orientiert, sondern auch durch seine Geschichte und die aktuellen politischen Orientierungen. Lviv ist eine pulsierende Großstadt mit fast einer Million Einwohnern, davon nahezu 200.000 Studentinnen und Studenten. Viele Gebäude in der Innenstadt zeigen deutlich das Erbe der österreichisch-ungarischen Monarchie, eine der historischen Herrschaftsphasen. Lange Zeit setzte die polnische Herrschaft Zeichen, auch die deutsche Besatzung, erst recht später die sowjetische – von allem sind vielfältige Spuren zu entdecken. Aber heute ist Lviv eine lebendige europäische Stadt.

Ukrainische Geschichte als Mosaik ethnischer Gruppen

Ein historisches Verständnis konnte bis ins Detail entstehen dank der ungeheuer kenntnisreichen Hinweise des in Lemberg lebenden Wissenschaftlers und Reisebegleiters Hans Christian Heinz, der vor allem die aktuellen Entwicklungen vor dem Alltagsleben seiner Familie und seiner Nachbarn und Verwandten spiegelte. Die Reisenden aus Lippe konnten so immer wieder die Perspektive wechseln und die „Innensicht“ kennenlernen. Die Geschichte der Ukraine insgesamt, besonders die der Westukraine (Galizien) ist eine Geschichte vieler unterschiedlicher ethnischer Gruppen mit unterschiedlichen Religionszugehörigkeiten, die nebeneinander lebten, oft auch miteinander, aber nicht selten gegeneinander vorgingen bzw. gegen die durch Unterdrücker und Peiniger von außen vorgegangen wurde, wie z.B. von den deutschen, polnischen oder sowjetischen Besatzern. Auch in Lviv wurden ab 1941 weit mehr als 100.000 jüdische Einwohner vernichtet.

Einen unter die Haut gehenden Eindruck bekam die Gruppe beim Rundgang in Schtschyrets, ein heute etwas größeres Dorf, als an einer Gedenkstätte beschrieben wurde, wie 1940 sowjetische Truppen die Intellgenzia des Ortes töteten, kurz danach die Wehrmacht einfiel und die Judenvernichtung einleitete. An die Opfer wurde in einem kleinen Museumsgebäude erinnert, das aktuell ständig erweitert werden muss mit Fotos der zwei jüngst auf dem Maidan erschossenen und der drei in der Ostukraine getöteten Einwohner. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges kämpften bis weit in die 50er Jahre hinein noch Partisanen gegen die sowjetischen Herrscher, auch das ist eine eher unbekannte Tatsache.

Am Ortsrand konnte im Beisein des Rabbiners Meylakh Sheykhet in einem Wald der jüdische Friedhof des Ortes besucht werden, an den sich die Sandgrube anschloss, an deren Rand 2.000 jüdische Bewohner von den Deutschen exekutiert worden sind. In einem jüdischen Gebet wurde gemeinsam dieser Gräuel gedacht. Die Geschichte des jüdischen Friedhofs wurde von älteren Mitgliedern einer örtlichen Bürgerinitiative vorgestellt, die gerade erst den von Bäumen und Sträuchern in den vergangenen Jahrzehnten vollkommenen zugewachsenen jüdischen Friedhof freigelegt haben und die ihn zu einer Gedenkstätte machen wollen.

Nicht weit von Schtschyrets ein  Ort namens „Rosenberg“, ein auch von Deutschen bewohntes kleines Dorf: 12 Häuser entlang eines Dorfweges, eigene deutsche Schule und eigener Brunnen, aus dem noch jetzt klares Wasser geschöpft und getrunken werden konnte. Im Dorf – wie überall – drei unterschiedliche Kirchen. (Deutschland Radio Kultur: Kirchen in der Westtukraine) Wie mehrfach betont wurde, hätten die Deutschen, die Juden und die Ukrainer lange Zeit hindurch dort nie Probleme miteinander gehabt. Die Friedhöfe sind es vor allem, die heute noch Auskunft geben über die ethnisch unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Deshalb wurden mehrfach galizien-deutsche Friedhöfe besichtigt, oft der Natur und unachtsamer Zerstörung preisgegeben. Es gibt in der Nähe eine kleiner werdende galiziendeutsche Landsmannschaft, wichtig noch heute durch ihre Kontakte nach Deutschland, oft mit Spendenaktionen zugunsten ukrainischer Nachfahren oder ihrer Wohnorte.

Große soziale Unterschiede

Die lippische Reisegruppe erlebte auf den Fahrten in die kleinen Städte und Dörfer der Umgebung Lvivs sehr deutlich den Unterschied zwischen der Großstadt und den Lebensumständen auf dem Lande, die kaum zum Überleben reichen. Ein Leben ist nur möglich im Mehrgenerationen-Famlienverbund, in Notfällen manchmal unterstützt durch kirchlichen Spenden, ein staatliches Sozialsystem gibt es nicht. Da verwundert es nicht, dass die Lebenserwartung in der Ukraine 10 Jahre geringer ist als in Deutschland. Mehrere Millionen Ukrainer leben zeitweise im Ausland und finanzieren ihre Familien mit. Im Gegensatz dazu war auch der neue Reichtum einiger vor allem an ihren protzigen Autos zu erkennen – wie es hieß auch in ihren knallig blauen Anzügen zu beobachten, z.B. bei den Hochzeitszeremonien im Kloster.

 

 

Großes Entwicklungspotential

Aber es gibt auch den Fortschritt moderner europäischer Industrieproduktion. Auf dem Lande plötzlich flache, helle Industriehallen, umzäunt, auf dem Parkplatz davor 30 Busse: die Weltfirma „LEONI“ stellt Kabelbäume für die Autoindustrie her. Verschiedene VW-, Porsche- oder Opel-Modelle werden mit den Kabelbäumen aus der Ukraine ausgestattet. 6.900 ukrainische Beschäftigte – 70 Prozent Frauen – sind in den weitläufigen Fabrikhallen damit beschäftigt, Kabel zu schneiden, zu verdrahten, Steckverbindungen anzubringen und sie zu komplizierten Kabelsystemen zu verbinden. Sie haben feste Arbeitsverträge mit monatlich um die 400 Euro, das Dreifache des ukrainischen Mindestlohns. Die Firma unterhält ein eigenes Bussystem, um die Arbeiterinnen und Arbeiter für das Fünf-Schicht-System aus der gesamten Region zusammenzuholen. Der deutsche Werksleiter Stephan Schmidt ist stolz auf den logistischen Hintergrund und auf die qualitativ hochstehenden Produkte. Die Fehlerquote liegt bei weniger als 5 Prozent – ein sehr guter Wert, betont er. Dies wird durch anspruchsvolle Handarbeit angelernter Arbeitskräfte erreicht. Den logistischen Hintergrund bilden 12 IT-Spezialisten, die es möglich machen, dass ein in Mitteleuropa oder auch ein in Portugal bestelltes und zusammenzubauendes Auto innerhalb von zwei Tagen den passenden Kabelbaum bekommt.

Wie schon Lembergs Oberbürgermeister Andrij Sadovyy ist Werksleiter Stephan Schmidt von dem enormen Entwicklungspotential der Ukraine überzeugt. Es sei eine Win-Win-Situation für Europa und die Ukraine. Europa erhalte qualitativ gute Produkte, hergestellt mit relativ geringen Arbeitskosten. In der Ukraine würden auf diese Weise qualifizierte Arbeitskräfte herausgebildet , die ihre Kenntnisse anwenden und weitertragen könnten. „Das Potential der Ukraine ist riesengroß“, erklärt Stephan Schmidt, „sonst wäre ich nicht hier.“

Korruption als gesellschaftliches Regelsystem

Nicht selten irritiert waren die Reisemitglieder durch die deutliche Beschreibung der weit verzweigten Korruption. Das gesellschaftliche Zusammenleben und der Staat sind auf Korruption aufgebaut, egal ob es um das Bestehen von Prüfungen geht oder um einzelne Karriereschritte oder auch tägliche Notwendigkeiten, z.B. Behördengenehmigungen. Immer muss an höher Stehende etwas vom eigenen Einkommen oder Vorteil abgegeben werden. Diejenigen, die etwas erreicht haben, haben auf diese Weise dafür einiges „investiert“. Sind sie dann an entsprechenden Positionen, wollen sie ihre „Investitionen“ zurückhaben. Ein zur täglichen Gewohnheit gewordenes Kreislaufsystem, immer auch verbunden mit Korruption großen Stils und natürlich politischer Korruption.

Erste leichte Verbesserungen seien beim Korruptionsabbau zu erkennen, wird versichert. So würde zum Beispiel versucht, eine unabhängige Polizei aufzubauen. Das sei nur möglich mit sehr guter Bezahlung der Polizisten, um sie unabhängig von Korruption zu machen. Streifenpolizisten in Lviv verdienten in einer neu aufgebauten Einheit beispielsweise fast so viel wie ein Universitätsprofessor. Auf diese Weise müsse auch eine unabhängige Justiz aufgebaut werden.

Nie wieder Russland

Immer wieder gab es deutliche politische Meinungsäußerungen. Sie richteten sich nicht nur gegen die herrschende Politik-Elite, sondern vornehmlich gegen die sowjetische Macht- und Lebenseinstellungen, in krasser Form gegen Russlands Präsident Putin. Die Menschen in der Ukraine wünschen sich vehement ein besseres Leben. Das ist nach ihrer Überzeugung nur mit der Orientierung am westlichen Gesellschafts- und Politiksystem möglich. Da sie in ihrer Geschichte nie etwas anderes kennengelernt hätten, sehen sie die reale Gefahr der gewaltsamen Unterdrückung durch Russland.

Nicht alle Befürchtungen und antirussischen Aggressionen stießen in der lippischen Reisegruppe auf ungeteiltes Verständnis, scheint doch eine Lösung der Konflikte auf diese Weise kaum möglich zu sein. Sei nicht eher eine am friedlichen Ausgleich orientierte und lösungsorientierte Politik gefordert, wurde mit Erinnerungen an die Verständigungspolitik Willy Brandts oder an die pragmatische Politik Angela Merkels und Frank Walter Steinmeiers gefragt.

Hermann Haack als Vorsitzender der Lippischen Gesellschaft für Politik und Zeitgeschichte resümierte: „Ein jeder hatte seine Meinung und musste im Verlauf der Reise es hinnehmen, korrigiert zu werden, gerade bei mir war das so. Wir haben ernsthafte, anspruchsvolle, aber auch fröhliche Stunden verleben dürfen, was sicherlich dazu führen wird, dass dieser oder jener wiederkommen wird.“

In Erinnerung bleiben werden sicher auch die Besuche in einem Freimaurer-Restaurant oder das koschere Essen im jüdischen Restaurant, die Rigoletto-Aufführung in der Oper und das gemeinsame Essen im unterirdischen Opern-Restaurant, durch das die historischen Quellen Lemberg noch als Bachlauf fließen. Es war eine ereignisreiche, spannende, aufrührende, nachdenklich, manchmal auch ratlos machende Themenreise 2015.