Der Lemgoer Schulkonflikt in den 50er Jahren hat Spuren hinterlassen

Aus der Geschichte kann man lernen, ja man muss Lehren aus der Geschichte ziehen. Davon waren nach Ende der Nazi-Diktatur auch Lehrerinnen und Lehrer überzeugt. Allerdings längst nicht alle. Viele wollten einfach vergessen und ihre eigene Beteiligung an der Diktatur nicht mehr thematisieren. So auch in Lemgo. Am EKG wurde der Schulleiter und engagierte Demokrat Ernst Werner weggemobbt und durch Wilhelm Kemper ersetzt, der eine beachtliche Nazi-Karriere hinter sich hatte.

Vor diesem Hintergrund sind zwei Exemplare eines Buches zu der exemplarischen Bedeutung dieses Lemgoer Schulkonflikts der Karla-Raveh-Schule als Dokument zur Demokratieerziehung übergeben worden.

Hier ein Pressebericht dazu:

Die Karla-Raveh-Gesamtschule in Lemgo erhielt kürzlich als Leihgaben für den Unterricht zwei im Handel nicht mehr erhältliche Bücher zum Konflikt über den früheren Schulleiter des Lemgoer EKGs (=Engelbert Kämpfer-Gymnasiums), Dr. Ernst Werner, der hier von 1949 bis 1957 wirkte. Nach Ansicht von Helmut Frische, der die Bücher zur Verfügung stellt, sollte eine Schule, die in der Tradition der Lemgoer Ehrenbürgerin Karla Raveh steht, diese Bücher besitzen und gebrauchen, insbesondere als kritisch zu lesende historische Quellen zur Geschichte der Stadt. Sie wurden von drei ehemaligen Schülern Werners herausgegeben und verlegt: Volkhard Brandes, Reiner Steinweg und Frank Wende. Schon die Titel der Bücher „Ich verbiete euch zu gehorchen“ und „Habe den Mut Dich Deines Verstandes zu bedienen“ zeigen worum es Ernst Werner ging. Im Unterricht förderte er die kritische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. Dabei wollte er seine Schüler zu eigenem Denken bewegen und sie sollten „nichts als gegeben übernehmen, auch nicht die Ansichten der Eltern“.

Damit forderte er von Anfang an eine durch die Nazipropaganda auch in Lemgo allseits verbreitete und übernommene NS-Ideologie heraus, die auch nach Kriegsende noch weit verbreitet war. „Ernst Werner hat an Erziehungszielen wie Vernunft und Kritikfähigkeit und am Mut zum aufrechten Gang festgehalten und seine Verachtung der Spießer, Nazis und Militaristen nie zu verbergen gesucht.“

Eltern, Lehrer, Medien und Politik sammelten fleißig Belege um seine Entlassung bzw. Versetzung zu erreichen, was schließlich auch 1957 zu seinem freiwilligen Amtsverzicht führte. Bezeichnend für die vielfach rückwärtsgewandte Ideologie von Teilen der Lemgoer Bürgerschaft sind zwei im Buch beschriebene Ereignisse aus der Nachkriegszeit.      

In Lemgo hatte man den Wehrmachtsgeneralmajor Otto Remer zu einem Vortrag eingeladen. Dieser war maßgeblich an der Niederschlagung des Aufstandes vom 20. Juli 1944 beteiligt und dafür von der Nazipropaganda als Held gefeiert worden. Nach dem zweiten Weltkrieg trat er weiterhin als rechtsextremer Politiker auf und wurde auch wegen seiner Holocaustleugnung verurteilt. In einem laut Buch restlos überfüllten Saal in Lemgo bezeichnete er unter großem Jubel die Attentäter als Vaterlandsverräter.

Mindestens ebenso bedenklich ist die Berufung von Werners Nachfolger. Ab 1959 wurde mit Dr. Wilhelm Kemper ein ehemaliger SS-Offizier zum Schulleiter berufen, der in der NS-Zeit Leiter einer Nationalpolitischen Erziehungsanstalt (Napola) war. In diese Elite-Internatsschulen wurden entsprechend der Nazi-Rassenideologie nur ausgewählte Schüler aufgenommen. Sie dienten zur Heranbildung des nationalistischen Führungsnachwuchses. Im Buch gibt es dazu ein Foto, das Dr. Kemper neben Heinrich Himmler zeigt, einem der Hauptverantwortlichen für den Holocaust.

Nach Meinung von Helmut Frische, der selbst zur Zeit von Werner Schüler des EKG war und ihm wichtige Erkenntnisse für seinen späteren Lebensweg verdankt, sind die beiden Bücher Zeitdokumente, die auch in der aktuellen Situation dazu beitragen können Schülern zu zeigen wie wichtig es ist sich für Politik zu interessieren, sich eine eigene Meinung zu bilden und zu erkennen, was nationalistische Ideologie auch heute noch bewegen kann. Die philosophische und persönliche Haltung des „Sapere Aude!“; Immanuel Kant’s lateinische Formulierung, die zum Titel des zweiten Buches wurde, sollte in jeder Schule pädagogisches Prinzip sein, bedeutet für die Karla Raveh Gesamtschule das Arbeiten im Sinne der Namensgeberin.

Abteilungsleiter Michael Heitkämper von der Karla Raveh Gesamtschule nahm die Bücher und den Fachbeitrag zum Schulkonflikt entgegen, bedankte sich herzlich für die Spende der seltenen Bücher. (Siehe Foto oben) „Sie sind ein wertvolles zeitgeschichtliches Dokument, das wir gerade an unserer Schule gut im Unterricht einsetzen können.“ 

LGPZ-Veranstaltung 22. November 1988

In einer Aufarbeitung des Lemgoer Schulkonflikts durch Jürgen Scheffler in der Zeitschrift für Lippische Geschichte im Juli 2021 wird deutlich, welche Kontroversen auch Jahre später durch ein Buch einiger seiner Schüler in Lemgo wieder aufbrachen.

Die Lippische Gesellschaft für Politik und Zeitgeschichte (LGPZ) ermöglichte in einer öffentlichen Veranstaltung unter Federführung von Dr. Wolfgang Ulrich, dem späteren Schulleiter, eine demokratische Diskussion.

In dem Text von Jürgen Scheffler heißt es dazu:

„Ernst Werner starb am 15. Januar 1986. Drei Jahre nach seinem Tod veröffentlichten Volkhard Brandes, Reiner Steinweg und Frank Wende im Verlag „Brandes & Apsel“ ein Buch über Ernst Werner und den Lemgoer Schulkonflikt. Der Band enthält neben Aufsätzen der Herausgeber zahlreiche Beiträge von ehemaligen Schülern und Kollegen, Texte von Ernst Werner selbst und Auszüge aus dem Gespräch, das die Herausgeber im Jahre 1983 mit Ernst Werner geführt hatten. Darüber hinaus gibt es einen umfangreichen Dokumentationsteil mit Zeitungsartikeln, Leserbriefen sowie den Vorermittlungen des Regierungspräsidenten und Ernst Werners Stellungnahme. Das Buch erschien in einer Zeit, in der aus Sicht der Herausgeber die 50er Jahre wieder „in Mode“ gekommen waren. Dem Trend zur 50er Jahre-Nostalgie wollten sie am Beispiel ihrer eignen Erfahrungen die kritische Auseinandersetzung mit der „Adenauer-Ära“ entgegensetzen.

Über das Erscheinen des Buches wurde sowohl in der lokalen als auch in der überregionalen Presse berichtet. Einige pädagogische Fachzeitschriften veröffentlichten Besprechungen des Bandes.

In der Stadt Lemgo selbst wurde das Buch in einer Veranstaltung der „Lippischen Gesellschaft für Politik und Zeitgeschichte“ am 22. November 1988 im „Engelbert-Kaempfer-Gymnasium“ vorgestellt. Wolfgang Ulrich, von 1970 bis 1994 Direktor des Gymnasiums, plädierte in seinem Grußwort dafür, die Herausgabe des Buches als Anlass für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Schulkonflikt der 50er Jahre zu nutzen. Volkhard Brandes hielt einen Vortrag unter der Überschrift „Aus Söhnen alter Nazis Menschen machen“ und Frank Wende referierte über die Biografie von Wilhelm Kemper, dem Nachfolger von Ernst Werner. Was man in den 50er und 60er Jahren in der Öffentlichkeit nicht thematisiert wurde, wurde nun offen ausgesprochen: die NS-Biografie des früheren Direktors und Nachfolgers von Ernst Werner. In zahlreichen Reden, die Wilhelm Kemper als Schulleiter vor Schülerinnen und Schülern gehalten hatte, hatte er über Demokratie und Freiheit gesprochen und vor den drohenden Gefährdungen gewarnt. Was er in seiner Zeit als Direktor nie angesprochen hatte, war seine eigene NS-Vergangenheit.

Das Buch und die Diskussionsveranstaltung hatten eine sehr positive Resonanz gefunden. Doch es kam nach der Veranstaltung erneut zu einer kontroversen Debatte über die Person Ernst Werner und den Schulkonflikt. In der Lippischen Rundschau erschien ein Artikel über die Veranstaltung, in dem Ernst Werner im Rückblick als „Verführer und Versager“ charakterisiert wurde. Verfasser war Lothar Geisler, der von 1956 bis 1981 als Lehrer am „Engelbert- Kaempfer-Gymnasium“ tätig war und seit langem als freiberuflicher Autor für die CDU-nahe Lokalzeitung schrieb.

Die Herausgeber reagierten auf die kontroverse Reaktion mit der Herausgabe eines weiteren Bandes, in dem die Vorträge der Lemgoer Veranstaltung, die kontroversen Artikel und Stellungnahmen sowie die Nachwirkungen des ersten Buches publiziert wurden. Für die Herausgeber hatten die Reaktionen in ihrer Vielfalt gezeigt, dass es ihnen mit dem Buch gelungen war, den über den Lemgoer Schulkonflikt der 50er Jahre „ausgebreiteten Schleier zu zerreißen“. Die kontroverse Diskussion hatte aus ihrer Sicht verdeutlicht, wie aktuell und brisant die „Begegnung mit unaufgearbeiteter Geschichte“ sein konnte.

 

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Ein Gedanke zu “Der Lemgoer Schulkonflikt in den 50er Jahren hat Spuren hinterlassen

  1. Helmut Schmeißner

    1947 habe ich von der Lemgoer Ostschule zum EKG gewechselt. Von Dr Ernst Werner erhielt mein Vater wegen seiner Einkommensverhältnisse die Zusage für eine Freistelle mit mehreren anderen Schülern. Nach dem Ausscheiden des Dr Werner aus dem Dienst strich der kommissarische Nachfolger Prinzhorn neben meiner auch weitere andere Freistellen. Monatlich 20,00 DM waren zu viel. Ich wechselte die Schule und ging weiter zur Volksschule am Wall in Lemgo. Eine Enttäuachung! Trotzdem gelang mir ein guter Abschluss mit dem Lehrer Mosch.

    Helmut Schmeißner
    Drossteweg 1
    32825 Blomberg