Diskussionsanstoß SZ-Text, 15.01.2021, S. 5:
„Die Katastrophe
Kaum ein Land ist so überzeugt von sich wie die USA. Es ist dieser Exzeptionalismus, der das Land lähmt – und für die Welt längst zum Problem geworden ist „– von Hedwig Richter
Rolf Eickmeier schreibt dazu:
Endlich – sagen viele – ist Trump weg. In knapp 1600 Tagen seiner Präsidentschaft mehr als 30.000 Lügen und Unwahrheiten zu verbreiten (nichts doppelt gezählt!) ist sicher an Dreistigkeit nicht zu überbieten. Aber dass ein großer Teil der amerikanischen Bevölkerung dies nach wie vor unterstützt, macht dann doch eher fassungslos.
Ein, wie ich finde, wichtiger Denkanstoß kommt von der Historikerin Hedwig Richter, die als Professorin an der Bundeswehrhochschule München lehrt. Sie nennt es „Die Katastrophe“, dass die USA so von sich überzeugt sind, dass sie den übertriebensten Versprechungen von amerikanischer Größe folgen und dass sie blind für Reformen sind..
Und es gäbe viel zu reformieren. Das beginne mit der Verfassung, sie sei ein Überbleibsel aus der Sklavenhaltergesellschaft: „Sie ist in einem Ausmaß dysfunktional, das für Verfassungen moderner Demokratien tatsächlich einmalig sein dürfte“, schreibt Hedwig Richter. So werde es möglich, dass die Schwachen immer wieder im Stich gelassen werden, dass nicht selten die Gewalt über das Recht triumphiere, dass das große Geld die Politik dominiere, dass es strukturellen Rassismus gebe und dass das Wahlsystem keineswegs dafür sorge, dass eine Stimme eines Wahlberechtigten (One person, one vote) gleich viel zähle.
Aber woher soll bei der weit verbreiteten „Selbstverherrlichung“ und „Selbstvergötterung“ die Erkenntnis für Reformen kommen? Sie führe zu einer „Infantilisierung politischen Denkens und Handelns“. Diese Haltung stehe gegen alles, „wofür die Menschheit in den letzten siebzig Jahren gekämpft hat: Toleranz, friedliche Verständigung, Gleichheit und Würde aller Menschen“, fasst Hedwig Richter zusammen. Wie solle sich eine solche Nation, die glaubt, die größte der Menschheit zu sein, in einer globalisierten Welt zurecht finden?
Wenn jetzt nach dem Sturm auf das Kapitol und der Vereidigung Bidens als Präsident hier bei uns das hohe Lied auf die Demokratie in den USA gesungen werde, könne eine kritische Nachdenklichkeit nicht schaden. „Gerade jene, die Amerika lieben und der Überzeugung sind, dass diese Nation die wichtigste Partnerin Europas ist, sollten nicht versuchen, mit Bidens Inauguration einfach zur Tagesordnung überzugehen.“