„Wir haben keine Angst“

„Wir haben keine Angst vor einem Einmarsch“. Das sagte Hans Christian Heinz in der Veranstaltung der LGPZ in Lemgo am 17. Februar – also noch vor Kriegsbeginn. Hans Christian Heinz lebt seit 27 Jahren in Lviv (früher Lemberg) in der Westukraine. Die internationale Aufgeregtheit mit dem russischen Truppenaufmarsch an der Ostgrenze der Ukraine und der amerikanischen „Nachrüstung“ lässt die Mehrheit der Bevölkerung in der Ukraine eher unaufgeregt bleiben“, erklärt er.

Auf die Stimmung in der Bevölkerung drücke allerdings der seit Jahren schwelende kriegerische Konflikt in der Ostukraine – immer wieder auch mit Toten auf beiden Seiten. Dort sind russische Militärkräfte im Lande aktiv zur Unterstützung der Separatisten. Hans Christian Heinz dazu: „Dem einfachen Ukrainer, dem steht´s hier oben ( Geste an die Stirn ). Die Ukrainer wollen Ruhe haben, die haben die Ungewissheit satt, die wollen arbeiten, die wollen vorankommen und die wollen dann in die EU.“


In den Gesprächen während seines Besuchs in Lemgo und in dem Vortrag im Gemeindesaal von St.Nicolai unter dem Thema „Ukraine zwischen Krieg und Frieden“ beschreibt Hans Christian Heinz immer wieder das oft verwirrende Geflecht historisch wechselnder Herrschaftsverhältnisse und die andauernden Selbstfindungs- und Entwicklungsprozesse in der jetzigen Ukraine. Die Ukraine als Nation in der jetzigen Form gibt es erst seit 1991. Davor war das Gebiet der Ukraine beherrscht von unterschiedlichen Machtblöcken, nicht nur von Österreich-Ungarn, von Polen und Nazideutschland, vor allem von der Sowjetunion bzw. Russland. Ein Großteil der Bevölkerung spricht in den Familien russisch. Auch das wurde zu einem großen Problem, als Russisch als Amtssprache verboten wurde. Kein Wunder, dass es in der jetzigen Ukraine langanhaltende ethnisch gefärbte Konkurrenzen und Konflikte gibt, andererseits auch Phasen, in denen man sich recht gut zusammenraufte.

Groß sind die Unterschiede zwischen Stadt und Land und zwischen Arm und Reich. In der frühen Phase der staatlichen Selbstständigkeit konnte derjenige mit den stärksten Ellenbogen und mit den skrupellosesten Methoden großen Reichtum anhäufen. Dabei entstanden Netzwerke von Neureichen, die ihre Einflussphären untereinander aufteilten und in den Regionen dann auch die politischen Ämter übernahmen oder sich abkaufen ließen. Korruption ist nach wie vor ein übliches Organisationsmittel – im Großen wie im Kleinen. Die Spitze des Eisberges bilden die sogenannten Oligarchen – Superreiche, die den gesamten Staat beeinflussen und lenken können. Das wird akzeptiert, weil es keine andere Organisationsform zu geben scheint, die geordnetes gesellschaftliches Leben ermöglicht.

Viele gewinnen der Macht der Oligarchen durchaus auch Positives ab, wenn sie als Mäzene auftreten, wenn nur dadurch staatliche und private Investitionsmaßnahmen über ein von ihnen aufgebautes Bankensystem funktionieren oder wenn dadurch die lokale Verwaltung funktioniert Das geht bis zu privaten Sicherheitseinheiten, also quasi Privatarmeen.

Auch die mit großen Mehrheiten gewählten Vitali Klitschko als Bürgermeister von Kiew oder der Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj waren Millionäre, als sie in die Politik gingen. Nur so konnten sie politische Macht und Mehrheiten gewinnen.  Nun können sie sich vielleicht fähige Berater leisten, hofft Hans Christian Heinz. Sie müssten aber ihre Macht mit anderen mächtigen Oligarchen austarieren.

Hoffnung könnten die immer besser ausgebildeten jungen Leute machen, die hoffentlich im Lande blieben oder zurückgeholt werden sollten. Die Digitalisierung habe große Fortschritte gemacht. Homeschooling in der Pandemie habe scheinbar besser funktioniert als in Deutschland. Lviv werde das Silicon Valley der Ukraine genannt, weil es dort so viele junge Start ups gebe. „Jetzt werden die Köpfe geschult für die Zukunft, und das ist aller Anstrengung wert“, fasst Hans Christian Heinz zusammen.

„Gerade für die Jüngeren ist Europa interessant und die EU erstrebenswert. Niemand wolle zurück in die Abhängigkeit von Russland.“ Die russische Propaganda verfange überhaupt nicht. Junge Leute informierten sich weitgehend unabhängig auf ihre eigene Weise.

Hans Christian Heinz versteht den Truppenaufmarsch als Versuch Putins durch diese Drohkulisse international wieder beachtet zu werden und von den Problemen im Inneren abzulenken. Wenn irgendwelche gesichtswahrenden Tricks gefunden werden könnten, dann würden die russischen Truppen Ostern wahrscheinlich weitgehend abgezogen sein, vermutet und hofft er.

In der anschließenden Diskussion stellte sich allerdings bei allen große Besorgnis ein, weil die Ansätze zur Lösung der Krise in der Ostukraine im sogenannten Abkommen von Minsk zurzeit überhaupt keine Rolle spielten – bei keiner der Konfliktparteien.. Das könne sehr gefährlich werden. Darüber müsse unbedingt im „Normandie-Format“ wieder friedlich verhandelt werden, waren sich alle einig. Hans Christian Heinz ist Mitglied der Lippischen Gesellschaft für Politik und Zeitgeschichte und wird weiter im Gespräch bleiben.

Vorsitzender Arne Brand bedankte sich bei Hans Christian Heinz für die aufschlussreichen Einblicke in die ukrainische Politik und Gesellschaft und wünschte ihm eine unbehelligte Heimreise. der Dank galt auch der Kirchengemeinde St.Nicolai mit Pastorin Bell für die Durchführung der Veranstaltung.

Wer in Hans Christian Heinz´ Vortrag nachträglich hineinhören möchte, der kann in den Podcast hineinhören, den wir hier in Kürze veröffentlichen.

 

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