Bilbao: Erinnerungen und Reflexionen

Die Reisegruppe zu Beginn des Besichtigungsprogramms auf dem Hausberg Artxanda mit Blick auf Bilbao

30 Lipper wollten es wissen: Bilbao – eine Designerstadt ?

Die Lippische Gesellschaft für Politik und Zeitgeschichte auf  Spurensuche im Baskenland

(H.Haack) Zu Beginn der Reise eine Überraschung ganz anderer Art für alle, die nach Bilbao fliegen wollten. Am Pier zum Einstieg bereit stand eine Air-Berlin-Maschine in der Lackierung von „Borussia Dortmund“, für Fans und Fotografen gab es kein Halten. Das erste Urlaubsfoto war „im Kasten“. Ein schöner Auftakt der Themenreise der Lippischen Gesellschaft für Politik und Zeitgeschichte“ nach Bilbao – in eine der interessantesten Städte Europas. Wie andere Metropolen bemüht sich diese Stadt seit Jahrzehnten, einen von der Europäischen Union als Folge der Globalisierung aufgedrückten Strukturwandel von einer Montanregion aus Kohle, Stahl und Werften zu einer Dienstleistungsgesellschaft zu bewältigen. Das Leitmotiv dieser Entwicklung heißt: “ Bilbao – eine Designerstadt“.

Für die 30 Mitglieder der Lippischen Gesellschaft für Politik und Zeitgeschichte zunächst einmal ein befremdlicher Begriff, den es zu verstehen galt. Nach dem Tod des spanischen Diktators Franco im Jahre 1975 begann in Gesamtspanien ein enormer Demokratisierungsprozess. Damit verbunden eine Rückbesinnung auf die Regionalgeschichte, bis hin zu separatistischen Zügen sowohl im Baskenland als auch in Katalonien. Ein massiver Strukturwandel hin zur Moderne war die unmittelbare Folge, nicht nur wirtschaftlicher Art, sondern auch sozial und kulturell, insbesondere in der Industriegesellschaft des Baskenlandes. Nach mehr als 150 Jahren verschwand die Industrie aus Kohle, Stahl und Werften. Eine Vernichtung tausender Arbeitsplätze war die unmittelbare Folge, begleitet von

widerstandsähnlichen Protestaktionen der betroffenen Arbeiterschaft. „ Die Stadt, die Region wurde auf „Null“ gestellt, sie sollte sich neu erfinden, ja musste sich neu erfinden, um überhaupt eine Chance auf Zukunft zu haben“, so Professor Roberto San Salvatore, Leiter eines Think Tanks an der Jesuitischen Universität, der sich mit dem Strukturwandel der Großregion Bilbao befasst. „Zukunftsvisionen waren gefragt, ein neues `Design´ für die Stadt und Region sollte entwickelt werden, so das erklärte Ziel als Vorgabe.“

Gleich zu Beginn der Reise erschloss sich vom Hausberg der Stadt namens Artxanda für die Reisegruppe ein wunderschöner Blick auf das neue Bilbao. Da, wo früher im engen Tal des Rio Nervion in Industriehallen und auf Werften produziert wurde, Kohleschlote rauchten, lag nun eine Flusslandschaft aus Uferpromenaden, dem Guggenheim-Museum und weiteren Kultur- und großzügige Sporteinrichtungen, darin verteilt in Parks Wohnblöcke und Bürogebäude, verbunden mit Radwegen, eingefasst von Zeilen mit thematisch auf die Industriegeschichte der Stadt ausgerichteten Skulpturen.

Das alles unfassbar, als der Reiseführer die alten Bilder der alten „schmutzigen“ Stadt Bilbao präsentierte. Seit Beginn der 90er Jahre ist gebaut worden. Die Altstadt mit ihren Fußgängerzonen, den Pintxos-Bars und Lädchen kontrastiert mit den zentralen Bauten der Neustadt von vor 150 Jahren, des Beginns der Gründung der Neustadt Bilbaos. Dort entstand ein Finanz- und Bankenzentrum mit repräsentativen, teils imperialen Bauten, in denen sich der Macht- und der Geltungsanspruch einer jahrhundertealten Großbourgeoisie widerspiegelte.

Der spanische Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 bereitete all dem ein jähes Ende, ein Mahnmal auf einem Berg erinnert daran. Die Gesellschaft teilte sich, die baskische Identität verschwand unter Folter und Verfolgung, machte sich wieder frei nach Frankos Tod, teilte sich erneut in bürgerkriegsähnlichem Separatismus und einer rein regionalen Kulturbewegung. Das wurde, so Professor Roberto San Salvatore, zu einem Entwicklungshemmnis in der Baskenregion, die alte Erstarrung der Gesellschaft wich einer neuen.

Erst mit dem Beitritt Spaniens zur EU trat auf der Grundlage einer internationalen Vermittlung Ruhe ein, die eine unermessliche wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Stadt freisetzte. Formen sprachlicher, sozialer und kultureller Autonomie wurden garantiert, die Finanzfrage zugunsten des Baskenlandes geregelt.

Symbol dieser erfolgreichen Entwicklung ist das Guggenheim-Museum. Ein Bau des Architekten Frank O. Gehry, 1993 auf ehemaligem Werftgelände errichtet, gilt als Initialzündung für das Wiedererstarken der Stadt. Somit erschließt sich der Begriff

“ Designerstadt“ als ein Projekt, welches das digitale Zeitalter, die Entwicklung einer Dienstleistungsgesellschaft in Verbindung von Bildung, Kultur und Freizeit als neue Form von Urbanität begreift. Insofern ist das internationale Interesse an der Entwicklung der Stadt groß.

Viel Zeit nahm sich die Reisegruppe, das alles durch Besuche von Museen, Plätzen, Parks und in Form von Ausflügen (Guernica) zu erkunden. Alles im grünen Bereich also? Nachgefragt wurde bei dem Verein „Basque cultura“, einer baskisch-deutschen Vereinigung, die in vernachlässigten Quartieren der Stadt Sozial-, Kultur und Geschichtsarbeit macht. Zivilgesellschaftlich ist dieser Verein, der Sozial-, Kultur- und Geschichtsarbeit macht, der “Graswurzelbewegung“ zuzuordnen. Er definiert sich selbst als basisorientiert, linksalternativ, geschichtsbewusst. Unter deren Führung brach die lippische Reisegruppe zu einer alternativen Stadtführung auf. Ein anderes Bilbao stellte sich nun vor.

Stadtviertel mit hohem Migrationsanteil präsentierten sich als heruntergekommen, Viertel mit Szenen aller Art – alles mischt sich dort „Die Welt ist hier in ihrer Vielfältigkeit zu Gast“, so der Stadtführer. Dazu wurden Beispiele guter Nachbarschaftsarbeit dargestellt, wie z.B. Kinderlernzentren.

Wie bringt man das alles zusammen, wenn der Betrachter schöne Bilder im Kopf hat und plötzlich in alten Industriehallen steht, die zu Kulturschuppen durch Besetzung umfunktioniert worden sind?

Die Erklärungen liegen nicht weit auseinander. Der Think Tank der Universität weiß um die Webfehler des Konzeptes der Designerstadt, die von „Basque cultura“ aufgezeigt werden. Beide sagen, dass alles Tun der Stadt dem Aufbau eines Arbeitsmarktes, der Modernisierung der Stadt, der Zukunft der Gesellschaft diene, aber sich auch rechnen müsse und sich den Erfordernissen der Globalisierung nicht entziehen könne.

Und was ist mit den Modernisierungsverlierern?, fragt „Basque cultura“ die Verantwortlichen immer wieder. Eine plausible Antwort fehlt.

Viertel, die nicht ins Schema passen, werden nicht saniert, Arbeitslose in prekären Verhältnissen belassen. Sozialarbeit? Fehlanzeige. So teilt sich die Stadt in Gewinner und Verlierer.

Kulturell und sozial stellt sich die Frage nach der baskischen Identität in einem solchen Prozess, ist dieses Element doch noch immer in den Mittel- und

Unterschichten und bei den Kulturschaffenden prägend. Bei den „Designern“ gerät das zunehmend zu regionaler Folklore, zu einem Event in der Stadt.

Spannend war es dann bei einem gemeinsamen baskischen Fest aller, bei der „Basque cultura“ auftischte, den lippischen Gästen ein selbst bereitetes 6-gängiges baskisches Menü servierte, begleitet von einem Vortrag zur Kultur und Sprache der Basken. Man war sich bei Strömen von Wein einig: Es darf keine kulturelle Enteignung der baskischen Identität durch jegliche Formen der Globalisierung geben!

Ernüchternd: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt trotz guter Bildung bei 40 Prozent. Die neuen Industrien, basierend überwiegend auf Industrie-4.0-Konzepten, erreichen die Jugendlichen nicht. Die Bildungsoffensive der Stadt, die mit der Realisierung des Konzeptes einer Designerstadt und dem Aufbau eines neuen globalen Industrieareals an der Küste einherging, ist nicht durchschlagend.

Die junge Generation hangelt sich durch Teilzeit-, Kurzfristarbeit und ähnlichem. Prof. Roberto San Salvatore sieht darin ein Potential eines möglichen Umsturzes. Zur Zeit suchen diese Gruppen junger Erwachsener nach alternativen Lebensformen, besinnen sich z. T. auf die syndikalistischen Traditionen in der Form, dass sich in den aufgegebenen Dörfern des Umlandes Lebensgemeinschaften gründen, deren Prinzip solidarisches Handeln und Wirtschaften ist. Der Reiseführer konnte davon beredt berichten, da er selber mit seiner Familie in einer solchen Gemeinschaft lebt – und das nach eigenem Bekunden sehr gut.

Begeistert von der Stadt, von den gemischten Eindrücken, von dem, was man erlebt hatte, kehrte die Gruppe nach Lippe zurück, gleichwohl auch sehr nachdenklich geworden bezogen auf die Zukunft einer jungen Generation von Basken, die einmal das Ruder übernehmen wird.

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