hafen„Auch wir waren Flüchtlinge“ – Deutsches Exil 1933/45

„Sowohl Schriftsteller wie Lion Feuchtwanger, Anna Seghers und die Mann-Familie als auch Politiker wie Rudolf Breitscheid, Rudolf Hilferding, ebenso der Philosoph Walter Benjamin, dazu der Künstler Max Ernst – sie alle flohen vor den Nationalsozialisten ab 1933 in das Exil nach Frankreich. Dennoch gerieten sie fast alle später in die Mühlen der Verfolgung und der Vernichtung. „Die Reisegruppe der Lippischen Gesellschaft für Politik und Zeitgeschichte wollte dazu auf Spurensuche gehen, um das Ganze begreifbar zu machen.“, so der Vorsitzende der Gesellschaft Hermann Haack zum Zweck der Reise. Zu unterschiedlichen Anlässen war das Thema Flucht und Migration immer wieder einmal Thema der Gesellschaft. „Auch wir waren einmal Flüchtlinge und waren auf Gewährung von Exil angewiesen“, dieser Satz eines Mitgliedes war letztendlich ausschlaggebend für die Reise in die Provence und nach Marseille. Somit brachen 25 Lipper und Lipperinnen für fünf Tage zu einer Spurensuche in die Provence und zu der Stadt Marseille auf.

Erste Station war das Internierungslager Camp des Milles (Links s.u.), nach 1939 von der französischen Regierung eingerichtet, um zu sichten, wer von den deutschsprachigen Exilanten Spion und wer zur Fünften Kolonne der Deutschen zählt. Dieses Internierungslager, in der Größe dem Ziegeleimuseum in Lage vergleichbar, diente jahrelang als Lager, ohne dass größere Umbauten vorgenommen wurden. Gelegen am Bahnhof der Stadt Mille diente es später nach der Kapitulation Frankreichs als Sammellager deutscher und französischer Juden zum Abtransport in die Massenvernichtungslager. Heute ist die Ziegelei ein Ort der Erinnerung, der mehr leistet, als die Gruppe erwartet hatte. Er umfasst Gemeinsamkeiten der deutschen und der französischen Geschichte, z.B. die des Antisemitismus und spart nicht die Kollaboration eines Teils der Franzosen mit den deutschen Besatzern aus.

Auf den Suren deutscher Exilanten in Marseille hörte die Reisegruppe der Lippischen Gesellschaft für Politik und Zeitgeschichte Passagen aus Anna Seghers Beschreibung ihres Exils in Marseille, vorgelesen von Dorothea Schmidt, Reisebegleiterin der Gruppe.

Auf den Suren deutscher Exilanten in Marseille hörte die Reisegruppe der Lippischen Gesellschaft für Politik und Zeitgeschichte Passagen aus Anna Seghers Beschreibung ihres Exils in Marseille, vorgelesen von Dorothea Schmidt, Reisebegleiterin der Gruppe.

Glück hatte die Gruppe mit der Reiseleiterin, die an den jeweiligen Orten des Museums Texte aus dem Buch von Lion Feuchtwanger „Der Teufel in Frankreich“ verlas, in dem er von seiner Inhaftierung im dortigen Lager berichtet. Sehr beeindruckend die zahlreichen Biografien und Dokumente über die Insassen, eine Ansammlung von Namen deutschsprachiger Politik und Geistesgeschichte. Ein Teil der Spuren gehen über die Pyrenäen nach Spanien und Portugal, dann weiter nach Süd- und Nordamerika, für andere in die Vernichtung durch die Deutschen Besatzer.

Für lange Debatten sorgte der dokumentarische Schlusspunkt des Museums, eine Aufbereitung als filmische Inszenierung über die generellen Mechanismen von Völkermord, dargestellt an den Beispielen der Vernichtung der Armenier, der Tutsi in Afrika und der Vernichtung der europäischen Juden. Eine für die lippischen Besucher  gewagte Darstellung, die in Deutschland sicherlich in dieser Gleichsetzung eine breite Debatte auslösen würde, wird doch hier von der Einmaligkeit der Shoa ausgegangen.

„Provence als Ort des Lebens“ war ein ganzer Tag in Aix gewidmet, danach ging es nach Marseille. Dort folgte ein literarischer Stadtrundgang auf den Spuren von Anna Seghers und der Philosophin Hannah Arendt. Dazu dann der Besuch des „Museums der Zivilisationen Europas und des Mittelmeeres„. Marseille dargestellt als ein ewiger Ort der Migration, dazu das Mittelmeer als Schnittpunkt von Orient und Okzident, oft als Zusammenprall, als zum Beispiel die Stadt innerhalb kürzester Zeit 370.000 Migranten aus Nordafrika aufnehmen musste, als deren Staaten dort selbständig wurden. Überall entstanden im Land Ghettos, „Banlieue“ genannt, Migrantenbrennpunkte heute.

Ganz im Gegensatz dazu stand der Besuch des Fischerstädtchens Sanary-sur-Mer, der Wahlheimat der deutschsprachigen Exilanten. Auch dort ein exemplarischer Rundgang mit Lesungen vor den Häusern der Manns, der Werfels und der Feuchtwangers. Allen gemeinsam dann der biografische Bruch 1939, als der Artikel 19 des Kapitulationsvertrags „Auslieferung auf Verlangen“ an die deutschen Besatzer Realität wurde. Die Gestapo begann mit Hilfe der französischen Polizei nach Listen zu sortieren, es wurde gefoltert, geprügelt, gemordet, aber auch manche konnten fliehen –  entweder über die Pyrenäen oder mit Hilfe des amerikanischen „Emergency Rescue Committee“ unter der Leitung von Varian Frey. Ihm ist heute zur Erinnerung eine Straße am Berliner Potsdamer Platz gewidmet.

Dabei hat sich auch Heldenhaftes auf französischer Seite abgespielt. So rettete ein Wärter drei jüdische Kinder vor deren Abtransport vom Camp des Milles nach Auschwitz, sie wurden später als eigene aufgezogen. Gefälschte Papiere wurde als richtige anerkannt, ebenso Fluchtrouten über die Pyrenäen nicht verraten. Auch das war Frankreich in der damaligen Zeit.

panoramamarseilleAll das war dann als Vergangenheit und Gegenwart Inhalt einer Begegnung mit dem Generalkonsul Dr. Krause, Leiter des Generalkonsulates in Marseille, gewissermaßen eine Abrundung des Ganzen. Im Mittelpunkt der Diskussion standen natürlich auch die Bewältigung der Flüchtlingsfrage sowohl in Frankreich als auch in Deutschland sowie die Erfolge der Nationalen Front von Marie le Pen und der hiesigen AFD.

In Folge dieser Erlebnisse und Gespräche wurde natürlich auch die Situation in Lippe erörtert, nämlich wie wir mit den Migranten und Flüchtlinge umgehen. Im Ergebnis ein weiterer Ansporn durch die Reise, denn wie sagte ein Mitreisender: „Auch wir waren einmal Flüchtlinge!“

(Hermann Haack)