Dr. Dieter Attig war Leiter verschiedener Stadtwerke, u.a. In Lemgo, Aachen, Saarbrücken und im Kasseler Land. Er hat wesentlich dazu beitragen können, dass die Kommunen wichtige Entwicklungsschritte in Richtung nachhaltiger Energieversorgung gehen konnten.

2003 wurde er von der Energie & Management Verlagsgesellschaft mbH als „Energiemanager des Jahres“ ausgezeichnet. Er wurde beschrieben als „ein ewiger Verfechter der Kraft-Wärme-Kopplung und kommunaler Strukturen.“

Dr. Dieter Attig lebt wieder in Lemgo und setzt seine Überzeugungsarbeit für eine kommunale Klimaneutralität fort.

Interview ( März 2024

Rolf Eickmeier /LGPZ): Die Stadt Lemgo will bis zum Jahr 2035 klimaneutral sein. Wir kann das in den nächsten 11 Jahren gelingen?

Dr. Dieter Attig: Der Aktionsschwerpunkt der Stadt bei der Erreichung der durch sie zu beeinflussenden Klimaneutralität liegt bei der Wärmewende und bei der Energieerzeugung Strom.

Klimaneutralität bei der Wärmewende bedeutet zunächst einmal die Herausnahme des Erdgases aus dem Heizungsbereich. Nicht ausreichend wäre es, allein auf die Verteuerung des Erdgases durch steigende CO2-Preise zu setzen. Es müsste vielmehr geplant werden, das Erdgas im Heizungsbereich 2035 abzustellen. Dies wiederum ist nur möglich, wenn für die Heizungskunden rechtzeitig klar ist, ob sie sich an die Fernwärme anschließen können oder eine Wärmepumpe benötigen.

Die Fernwärmeplanung der Stadtwerke wird in 2025 vorliegen. Dann müssen die betreffenden Straßen mit Fernwärmeleitungen versehen werden. Eine anspruchsvolle und teure Maßnahme, aber machbar.

Außerhalb der Fernwärmegebiete haben die Kunden 10 Jahre Zeit, ihre Gas- und Ölheizungen auf Wärmepumpen umzustellen. Dies bedeutet teilweise auch eine Erneuerung von Heizkörpern und eine Verbesserung der Wärmedämmung. Trotz hoher Zuschüsse bis zu 70% wird das für viele eine finanzielle Anstrengung bedeuten. Hilfestellung könnten die Stadtwerke leisten, indem  sie Contractinglösungen für Wärmepumpen anbieten. 

Auf die Stadtwerke kommen im Fernwärmebereich noch weitere hohe Belastungen hinzu. Die Erzeugung der Fernwärme muss bis 2035 klimaneutral erfolgen. Dies wird möglich sein. Bisher liegen Planungen vor, bis 2028 eine Klimaneutralität von 55% zu realisieren. Um die restlichen 45% bis 2035 zu erreichen, sind noch einmal erhebliche Investitionen erforderlich. Rückrat dieser Maßnahmen werden Großwärmepumpen sein, die Wärme aus dem Erdreich beziehen. Offen ist noch, welche Tiefe die erforderlichen Bohrungen haben werden. Ergänzend können dann noch hinzukommen Solarthermie, Altholzkessel, Stromdirektheizungen, Spitzenkessel auf Wasserstoffbasis, Umstellung der Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen auf Wasserstoff und ggf. sogar Tiefengeothermie. Dieser Umbau ist längerfristig sogar wirtschaftlich, da nur noch wenig Energie hinzugekauft werden muss und fossile Energien immer teurer werden.

Bei der Stromerzeugung wird die Stadt über ihre Stadtwerke noch erheblich in Erneuerbare Energien investieren müssen. Auch hier ist die längerfristige Wirtschaftlichkeit hervorzuheben, aber die Investitionen sind erst einmal zu erbringen. Zur Entlastung des riesigen Investitionsbudgets können örtliche Bürgerenergiegenossenschaften herangezogen werden. Die Stadtwerke errichten und betreiben die Anlagen und können damit an den Dienstleistungen verdienen. Wesentliche Anteile am Eigentum der Anlagen übernehmen örtliche Bürgerenergiegenossenschaften. Auf diese Weise verdienen Lemgoer Bürger mit, das Geld bleibt in der Stadt und die Akzeptanz der Anlagen steigt erheblich.

Im Verkehrsbereich hat die Stadt weniger Einfluss auf die Klimaneutralität. Mit dem Stadtbus wird der ÖPNV schon überdurchschnittlich gefördert. Verbesserungen für entferntere Ortsteile durch Anrufsammeltaxis, Rufbusse o.ä. können erreicht werden.

Förderung von Fuß- und Fahrradverkehr und Verminderung der Attraktivität des Autoverkehrs gehen Hand in Hand. Durchfahrtverbote durch die Innenstadt, Sperrung einzelner Straßen für Nichtanlieger und Verteuerung des ruhenden Verkehrs liegen im Hoheitsbereich der Stadt. Umstellung eigener Fahrzeuge auf Elektroantrieb und Förderung der Ladesäuleninfrastruktur verbessern die Struktur, führen aber noch nicht zur Klimaneutralität.

Fazit: Soweit es im Einflussbereich der Stadt liegt, ist die Klimaneutralität in Lemgo bis 2035 unter großen Anstrengungen erreichbar. Dies sagt auch das beschlossene Klimakonzept aus.

R.E. Für Ostwestfalen-Lippe wird zurzeit ein neuer Regionalplan beraten. der besonders auch Flächen für die Erzeugung regenerativer Energien klarer und erweitert ausweisen soll. Welche, möglicherweise für manche Interessengruppen auch unbequeme Prioritäten müssen dabei gesetzt werden?

Dr. Dieter Attig: Bei der Windenergie ist die zentrale Frage, ob Windkraftanlagen im Wald unbeschränkt zugelassen werden. Dies müsste meiner Meinung nach wegen der hohen Priorisierung des Klimaschutzes bei allen Maßnahmen unbedingt möglich sein. Sie stören dort keine Bebauung und bringen dem Klimaschutz ein Vielfaches an Vorteilen gegenüber dem Wegfall einiger Bäume. 

Die Abstandsregelung, 1000 m zur Bebauung einzuhalten, ist unsinnig. Während nach Süden hin wegen des Schattenwurfes der Rotoren bei den sehr hohen Anlagen ein großer Abstand sinnvoll ist, können die Abstände in anderen Richtungen weit geringer sein, da Schall und Infraschall dies zulassen.

Die Zulassung und Förderung von PV auf Dach- und Fassadenflächen ist sinnvoll und unumstritten. Auch ist klar, dass Freiluft-PV nicht auf jeder hochwertigen Ackerfläche sinnvoll ist, um die Nahrungsmittelversorgung nicht zu gefährden. Es bleiben genug andere Flächen, deren Nutzung möglichst unbürokratisch möglich sein sollte. Die Beschränkung von PV auf Randstreifen von Verkehrstrassen schränkt den dringend notwendigen massiven Ausbau von PV unnötig ein.

R. E. Der neue Regionalplan lässt jeder einzelnen Kommune Spielräume zur Konkretisierung und Ergänzung. Was müsste dabei für Lemgo angedacht werden?

Dr. Dieter Attig: Besonders knapp und wichtig sind in Lemgo Standorte für Windkraftanlagen. Die 5 Standorte im Waldgebiet Lemgoer Mark sollten daher mit aller Kraft angestrebt werden, auch wenn derzeit der gesetzliche Rahmen noch Schwierigkeiten bereitet.

Die Rahmenbedingungen für PV auf Dächern sind in Lemgo bereits gut. Die in Deutschland noch unterentwickelte Agri-PV könnte von den Stadtwerken durch ein Pilotprojekt gefördert werden.

R.E.: Wie können sich die einzelnen Bürgerinnen und Bürger an der Entwicklung zur Klimaneutralität beteiligen?

Dr. Dieter Attig: Der Einfluss des Handelns Einzelner auf die Klimaneutralität beträgt nur 8%, 25% bewirkt die Industrie und zwei Drittel entfallen auf den Gesetzgeber und die Regierungen in allen Ebenen der öffentlichen Hand. Damit will ich die Wichtigkeit individuellen Handelns nicht infrage stellen, sondern darauf hinweisen, wie wichtig für jeden von uns das Wahlverhalten und das Einwirken auf diePolitik z.B. durch Demonstrationen sind. 

Unabhängig davon ist jede Einzelperson, schon um des guten Beispiels willen, aufgerufen, nachhaltig und klimabewusst zu leben.

Stichworte sollen sein: Reduzierung Fleischverzehr, Wahl umweltfreundlicher Verkehrsmittel, umweltbewusst einkaufen, Beitritt zu einer Bürgerenergiegenossenschaft mit dem Ziel der Förderung Erneuerbarer Energien, u.v.a..

R.E.: Vor kurzem hat sich die „Lippische Gesellschaft für Politik und Zeitgeschichte“ in Dörentrup-Oelentrup in einer „Vor-Ort“ -Erkundung die Funktionsweise und die Möglichkeiten einer Biogasanlage erklären lassen. Wie schätzt du diese Art der Energieerzeugung in unseren eher ländlichen Räumen ein?

Dr. Dieter Attig: Bei der Erzeugung von Biogas kommt es in erster Linie auf den Ausgangsstoff an. Abfälle aller Art unter Einschluss von Gülle sind zur Erzeugung von Biogas sehr sinnvoll. Gar nicht gut ist dagegen die Verwendung von Mais für diesen Zweck. Eine PV-Freiflächenanlage würde auf der gleichen Fläche, die der Mais benötigt, den 50 fachen Energieertrag erbringen. Während PV-Anlagen einen Wirkungsgrad von 25% erreichen, kommt die Photosynthese bei Pflanzen gerade einmal auf 0,5%.

Bestehende Anlagen zur Herstellung von Biogas haben besonders dann eine Bedeutung, wenn das Biogas dafür verwendet wird, in Spitzenkraftwerken die Lücken der Erzeugung bei Erneuerbaren Energien in der sog. Dunkelflaute auszugleichen. Dies gilt so lange bis der Wasserstoff in hinreichender Menge und zu bezahlbaren Preisen für diesen Zweck zur Verfügung steht.

Bestehende Biogasanlagen haben natürlich Bestandsschutz. In vielen Fällen sind sie auch Ausgangspunkt für eine nachhaltige Wärmeversorgung, wie es in Dörentrup der Fall ist. Neue Anlagen sollten dagegen nicht mehr errichtet werden. Beispielsweise wäre die Förderung von Agri-PV im landwirtschaftlichen Bereich eine wesentlich zukunftsgerechtere Alternative.

R.E.: Es wird viel über die Erzeugung von Wasserstoff gesprochen, z. B. auch in einem Kooperationsprojekt der Gemeinde Kalletal mit dem Kreis Herford. Welche Bedeutung kann die Erzeugung grünen Wasserstoffs haben?

Dr. Dieter Attig: Wasserstoff ist ein Hoffnungsträger der Energiewende, er wird aber in seinen Einsatzmöglichkeiten teilweise überschätzt. In der Industrie und bei Antrieben für Flugzeuge und Schiffe wird er, teilweise auch in umgewandelter Form wie z.B. als Methanol, eine große Bedeutung haben, hingegen ist der Einsatz im PKW-Verkehr und zu Heizzwecken ineffektiv und viel zu teuer. Während die in Deutschland benötigten Strommengen im eigenen Land erzeugt werden können, muss der notwendige Wasserstoff zu mehr als zwei Dritteln importiert werden. Die heimische Wasserstoffproduktion wird sich langfristig darauf beschränken, ohnehin vorhandene Stromerzeugung, die sonst abgeregelt werden müsste, sinnvoll zu nutzen. Insofern ist auch die eigene Produktion insbesondere in der Hochlaufphase wichtig.

R.E.: Klar ist, die Anlagen zur Erzeugung Regenerativer Energien und die notwendige Infrastruktur erfordern hohe Investitionen. Wie schätzt du die Chancen ein, dass sich in den Kommunen und ihren Stadtwerken die notwendigen Mehrheiten überzeugen lassen?

Dr. Dieter Attig: Ein Stadtwerk investiert permanent in Netze und Erzeugungsanlagen. Da Erneuerbare Energien in der Regel rentabel sind, investieren heute die meisten Stadtwerke intensiv in diesem Bereich. Die Frage ist allerdings, ob die Höhe der Investitionen ausreicht, um die erforderliche Schnelligkeit beim Ausbau der Erneuerbaren Energien zu erreichen. Die Mittel für den sehr schnellen Ausbau können nicht mehr aus den Gewinnen und den üblichen Kapitalzuführungen an die Stadtwerke bereitgestellt werden. Die Erreichung der Klimaziele tritt damit in Konkurrenz zu den vielen sonstigen kommunalen Aufgaben, die sich ohnehin kaum noch finanzieren lassen. In vielen Kommunen wird in dieser Notlage in Kauf genommen, die erforderlichen Investitionen zu strecken und damit den Zeitpunkt der Erreichung der Klimaziele nach hinten zu schieben. 

In Lemgo hat sich die Kommune ein hohes Klimaziel gesetzt. Nach Vorliegen der Wärmeplanung, die zu sehr hohen Investitionen führen wird, muss eine Finanzplanung bis 3035 durchgeführt werden. Ich glaube, dass Lemgo vor dem Hintergrund seiner zufriedenstellenden Finanzsituation und seiner gesunden Stadtwerke die erforderlichen Finanzleistungen erbringen kann und wird. Auf die möglichen Entlastungen durch örtliche Bürgerenergiegenossenschaften soll an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich hingewiesen werden.

R.E.: In den nächsten Jahren sind also große Kraftanstrengungen auf dem Weg zur Klimaneutralität nötig – und das natürlich nicht nur in Lemgo. Vielen Dank für die informations- und erkenntnisreichen Erklärungen.

Dr Dieter Attig hat in einer Veranstaltung der Lippischen Gesellschaft für Politik und Zeitgeschichte zusammen mit dem BUND-Lemgo und dem AWO-OV Lemgo im Februar 2023 deutlich gemacht, dass „die regenerativen Energien uns retten“ müssen.

Hier Bericht, Schaubilder zu den Folgen der Klimakrise und der Wortlaut seines Vortrags.