
Bürgerinnen und Bürger Europas sollten ihre Ideen und politischen Vorschläge in die europäische Politik einbringen können. Diese direkte Form der internationalen Bürgerbeteiligung wurde „Konferenz zur Zukunft Europas“ genannt. Sie sollte die Arbeit des Europaparlaments ergänzen und der EU-Kommission und den Regierungen wichtige Reformwünsche präsentieren.
Die Vorstandsmitglieder der LGPZ haben sich in der Vorbereitungsphase auf die Zukunftskonferenz im März 2021 mit der Berliner Europaabgeordneten Gabriele Bischoff in einer Videokonferenz getroffen und über diese neue Form europäischer Demokratie diskutiert. Die LGPZ fragt nun bei Gabriele Bischoff nach, die 2024 erneut in das Europäische Parlament gewählt worden ist: War diese große Bürgerbeteiligungskonferenz in Europa erfolgreich? Was ist aus den Vorschlägen der Europäischen Zukunftskonferenz geworden?
Fragen an Gabriele Bischoff, Mitglied des Europaparlaments

LGPZ:
Ist Bürgerbeteiligung auf europäischer Ebene überhaupt möglich bzw. in welcher Weise könnte sie möglich gemacht werden? Ist der Versuch mit dem umfangreichen und komplizierten Beteiligungsformat der „Zukunftskonferenz für Europa“ sinnvoll gewesen?
Gabriele Bischoff:
Wie kann ich als Bürgerin mich in die EU-Politik in Brüssel einbringen? Welche Möglichkeiten von Bürgerinnen-Beteiligung gibt es? Diese Frage begegnet mir im Alltag als EU-Abgeordnete immer wieder – ob im Austausch mit Menschen, Initiativen und Organisationen. Häufig wirkt die EU und „Brüssel“ für die Menschen in Deutschland weit weg und zu bürokratisch.
Tatsächlich gibt es heute mehr Möglichkeiten zur Mitgestaltung als je zuvor – auch wenn hier noch Luft nach oben ist. Das größte Projekt an Bürgerbeteiligung bisher war die „Konferenz zur Zukunft Europas“, an der 800 zufällig ausgewählte Bürgerinnen teilgenommen haben, die die europäische Gesellschaft repräsentieren.
LGPZ: Gibt es weitere Beteiligungsmöglichkeiten auf EU-Ebene?
Gabriele Bischoff: Es gibt auf EU-Ebene für Bürgerinnen eine Reihe von Möglichkeiten, sich in die europäische Politik einzubringen. Die vielleicht bekannteste ist die „Europäische Bürgerinitiative“. Hier können sich Bürgerinnen mit einem Anliegen zusammenschließen und die EU-Kommission auffordern, sich mit einem bestimmten Thema zu befassen.
Nötig sind dafür insgesamt eine Millionen Unterschriften aus sieben EU-Mitgliedsstaaten. Bei knapp 450 Millionen Einwohnerinnen ist dies im Verhältnis gar nicht so viel. Eine erfolgreiche Initiative war beispielsweise die Initiative „Right2Water – Wasser ist ein Menschenrecht“. Daraufhin musste sich die EU-Kommission mit den Forderungen der Initiative auseinandersetzen und eigene Vorschläge auf den Weg bringen.
Bürgerinnen können bei der Europäischen Bürgerinitiative zwar keine Gesetzesvorschläge direkt einbringen. Doch erfolgreiche Initiativen haben gezeigt: Sie erhöhen den politischen Druck auf die EU-Kommission erheblich.
Neben der Europäischen Bürgerinitiative gibt es für EU-Bürgerinnen auch die Möglichkeit sich bei öffentlichen Konsultationen der EU-Kommission einzubringen. Wer sich etwas für Umwelt, Digitalisierung oder soziale Rechte interessiert, kann über das Portal „Have your Say“ seine Meinung zu geplanten Maßnahmen einreichen.
Bürgerinnen und Initiativen können darüber hinaus auch Petitionen an das EU-Parlament einreichen. Für die Bearbeitung dieser Petitionen gibt es im EU-Parlament einen Petitionsausschuss. Dieser beschäftigt sich mit den von Bürgerinnen eingereichten Vorschlägen und nimmt sie ggfs. in die weitere Arbeit von Gesetzen und Initiativen auf.
Die hier beschriebenen Möglichkeiten sind natürlich nicht die einzigen, sich in der EU-Politik einzubringen. Es gibt viele Initiativen, Vereine und Organisationen, die sich mit europapolitischen Themen beschäftigen.
LGPZ: Die Interessen der Bürgerinnen und Bürger werden also in Brüssel wahrgenommen?
Gabriele Bischoff: Ein Engagement lohnt sich: Es stärkt nicht nur das demokratische Fundament der EU, sondern gibt Bürger*innen auch die Möglichkeit, konkrete Anliegen auf die europäische Agenda zu bringen. Ob in der Umweltpolitik, der digitalen Transformation oder beim Schutz sozialer Rechte – zivilgesellschaftliche Stimmen tragen dazu bei, dass EU-Gesetze näher an den Bedürfnissen der Menschen gestaltet werden.
Für die Institutionen der EU ist dieser Input wertvoll: Er bietet Perspektiven aus der Praxis, macht auf Fehlentwicklungen aufmerksam und verbessert die Qualität und Legitimität der Gesetzgebung.
Wer sich engagiert, wird also gehört – und hilft mit, Europa besser und gerechter zu machen.
LGPZ: Was wird denn nun aus den Empfehlungen der Zukunftskonferenz bzw. was ist inzwischen daraus geworden?
Gabriele Bischoff: Von 2020 bis 2021 haben zufällig ausgewählte Bürgerinnen ein Jahr lang überall in Europa darüber diskutiert, wie die Zukunft der EU aussehen soll. Aus insgesamt 325 entwickelten Maßnahmen gingen 49 Empfehlungen hervor – mit dem Ziel, die EU sozialer, demokratischer und handlungsfähiger zu machen. Eine parteiübergreifende Gruppe von EU- Abgeordneten wollten die Empfehlungen der Zukunftskonferenz nicht im Sand verlaufen lassen und ergriff nach Abschluss der Zukunftskonferenz die Initiative, um sie ins Europäische Parlament einzubringen. Im Dezember 2023 – nach über einjähriger Verhandlung – hat das Parlament den Bericht zur Änderung der EU-Verträge angenommen. Viele der vorgeschlagenen Reformen basieren auf den Ideen, die Bürgerinnen im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas eingebracht haben.
Eine zentrale Forderung ist die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in vielen Politikbereichen. Entscheidungen im Rat sollen künftig häufiger mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden, um Blockaden durch nationale Vetos zu verhindern. Zudem verlangt das Parlament mehr demokratische Mitbestimmung – etwa ein echtes Initiativrecht sowie das Vorschlagsrecht für die/den Kommissionspräsident*in.
Der Bericht enthält auch wichtige inhaltliche Weichenstellungen: Er fordert neue Kompetenzen für die EU – etwa in der Gesundheits-, Steuer-, Investitions- und Klimapolitik. Durch sozialen Fortschritt und klare Antidiskriminierungsregelungen wollen wir ein sozial gerechtes Europa stärken. Dazu gehört auch die Möglichkeit, wie ein gemeinsames Beschaffungswesen für Verteidigungsgüter.
Mit der deutlichen Zustimmung zum Bericht im November 2023 hat das Europäische Parlament ein klares Signal gesetzt: Wir stehen hinter den Vorschlägen zur Reform der EU-Verträge und fordern den Rat auf, die nötigen Schritte einzuleiten, um einen Vertragskonvent auf den Weg zu bringen.
Seitdem liegt der Ball nun im Spielfeld vom Europäischen Rat und den Mitgliedsstaaten.
Leider hat sich der Rat bisher nicht bewegt. Das ist schade, denn ich bin überzeugt: Europa muss seine Handlungsfähigkeit stärken, um die globalen Herausforderungen zu bewältigen und sich darüber hinaus auch fit zu machen für zukünftigen Erweiterungen.
Und Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen: Die EU reformiert sich meist erst, wenn der Druck groß genug ist – ob in der Pandemie oder nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Doch wir sollten nicht immer erst auf die nächste Krise warten, um handlungsfähig zu werden.
Vorausschauende Reformen in herausfordernden Zeiten sind nicht nur möglich, sondern
notwendig – wenn wir die Zukunft Europas aktiv gestalten wollen.
LGPZ: Vielen Dank, Gabriele Bischoff, für dieses Gespräch. Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg bei dem Versuch, die EU im Sinne der Bürgerinnen und Bürger zu verbessern.