Die Arbeit im Europaparlament hatte die Reisegruppe der Lippischen Gesellschaft für Politik und Zeitgeschichte bereits aus nächster Nähe kennengelernt. Nun interessierte natürlich die Frage, was die Stadt Brüssel so europäisch macht. In dem amüsanten Marsch durch die Stadt und ihre Geschichte konnten bei der Stadtführung viele Hinweise gefunden werden. 

Der sehr unterhaltsame Stadtführer wies immer wieder darauf hin, dass Brüssel wie die „kleine Tochter von Paris“ sei – wegen der vorherrschenden französischen Sprache, erkennbar auch an manchen imposanten Häuserfronten oder an der Kathedrale als scheinbarer Tochter von Notre Dame oder auch an dem überaus lebendigen Kneipen- und Restaurantviertel mit spezieller und guter Küche. Charakteristisch für Brüssel auf jeden Faĺl auch das Nebeneinander verschiedener Sprachen.

Natürlich beleuchtete er immer wieder mit witziger Selbstkritik die unterschiedlichen Regionen Belgiens, ihre gleichgewichtigen Rechte und ausgewogenen Selbstständigkeiten – in Brüssel konsequent auf allen staatlichen Ebenen praktiziert. Da wird nicht selten lange geredet, bevor etwas geschieht, manches wird auch ewig lange beraten, manchmal auch doppelt und dreifach – da kann das Land dann schon mal zwei Jahre ohne Regierung sein – na und? Also Anerkennung gleicher Rechte und zur Not auch langdauernde Suche nach Lösungen ist doch sehr europäisch, könnte man meinen. Im Übrigen, besser lange reden als gleich machohaft aufeinander losgehen, war der Stadtführer überzeugt.

Er erinnerte an die historischen Auseinandersetzungen früherer Jahrhunderte,  in denen das heutige Belgien von unterschiedlichen europäischen Machtzentren beherrscht wurde, bevor es ab 1830 so etwas wie nationale Selbstständigkeit gab. Bei all dem dürfe man nicht vergessen, dass diese Region zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert ungeheuer reich war – die Tuchhändler der damaligen Zeit mit Brügge als großer Hafenstadt dominierten das europäische Wirtschaftsgeschehen. Der „Handelskapitalismus wurde in Brügge erfunden“, erklärte der städtische Geschichtenerzähler. Das Wort „Börse“ stamme aus dieser Zeit in Anlehnung an eine Familie in Brügge mit einem Gasthaus, in dem die Preise für die Tuchwaren und ihren Transport jeden Tag ausgehandelt wurden.

Er vergaß auch nicht zu erwähnen, dass der Aufbau und auch der Reichtum Brüssels wesentlich auf Leopold II. zurückgehe, denn der habe eine Kolonie besessen, nämlich Belgisch-Kongo, das unter Millionen Menschenopfern brutal ausgebeutet worden sei. Ein Teil des Reichtums Leopold II sei dann in den Aufbau Brüssels geflossen.

Was sind bis heute die speziellen Besonderheiten Brüssels? Sein Bier natürlich mit über 200 Sorten. Einige wurden von unserer Reisegruppe getestet und für sehr gut empfunden. Dann vor allem die Pralinen. Entstanden sind sie in einer Apotheke als Schoko-Überzug auf bittere Arzneien. Aber daraus entwickelten sich immer schmackhaftere Köstlichkeiten. Heute sogar einer der Exportschlager Belgiens.

Und dann ist Brüssel eben die EU-Stadt, mit 35.000 EU-Angestellten und mit nicht weniger als 45.000 Lobbyisten. Schön für Brüssel, eher nicht für Europa. Zur europäischen Hauptstadt gehören auch jährlich 3000 Demonstrationen. Schon während des Vortages und erst recht am Abend im Restaurantbezirk waren die vielen rot-gelben Fahnen und Kleidungsstücke nicht zu übersehen, vor allem auch die vielen knallgelben Schals – die für Unabhängigkeit demonstrierenen Katalanen waren da.

Nachdem Männeken Pis noch besichtigt worden war, schloss sich nach einer langen U-Bahn-Fahrt – auch ein multikulturelles Erlebnis – dann noch die Besichtigung des Atomiums an.

Jedenfalls konnten alle Reiseteilnehmer mit einem tieferen Verständnis für Leben und Lebensstil in Brüssel die Heimreise antreten.